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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Raible, Wolfgang: Kurt Baldinger (17.11.1919-17.1.2007)
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0153
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NACHRUFE

tungslehre stehen, sondern bettete sie früh in eine Theorie der Semantik ein2. Er
ging früh über den Raum der Gallo-Romania hinaus und widmete sich der Ibero-
Romania, u.a. mit einem Werk zur Herausbildung der Sprachräume auf der
Pyrenäenhalbinsel, das bald in spanischer Sprache erschien und dabei bei jeder Neu-
Auflage gewichtiger wurde3. Baidinger besaß weiterhin die Fähigkeit, komplexe
Erscheinungen so auf den Punkt zu bringen, dass man erleuchtet wurde und sich
fragte, wieso das vorher kein anderer so gesehen hatte. Paradebeispiel ist em Beitrag
über “Post- und Prädeterminierung im Französischen”, den er 1968 publizierte4.
Dabei gelang es ihm stets, auch die historische Sprachwissenschaft interessant und
spannend zu machen, gerade auch für den ‘Arbeiter- und Bauernstaat’, als den sich
die ehemalige DDR verstand. Em Beispiel ist die Untersuchung der Bezeichnungen
für den freien Bauern und ihre sukzessive Veränderung (yillain, paysan, roturier), die
natürlich in einen historischen Kontext eingebettet werden musste.
Bei solchen Tätigkeiten kam Baidinger zugute, dass er ein Ausbund an Wissen,
em abtme de Science, war. Bei der Lektüre seiner Arbeiten hat man den Eindruck, er
habe alles gelesen und wisse alles: Bezeichnungen für die Dummheit, Fischzucht in
der Bresse, Rechtssprache in der Gascogne, der ‘Weg’ in der Romania, die Termino-
logie der Tabakindustrie, der Modus nach Verben der behördlichen Willensäußerung,
Argot-Bezeichnungen für den Kopf und ihre Folgen für Sprachsysteme, etc. Dabei
war er unglaublich produktiv - das Schriftenverzeichnis in dem Band mit aus-
gewählten Arbeiten, der ihm aus Anlass seines 70. Geburtstags überreicht wurde,
umfasst 23 Monographien, 261 Aufsätze und 1.890 Rezensionen - die Rezen-
sionstätigkeit hängt natürlich auch mit seiner langjährigen Tätigkeit als Herausgeber
der renommiertesten romanistischen Fachzeitschrift zusammen5.
Em weiteres Charakteristikum Baldingers lag darin, dass er über sein engeres
Fachgebiet hinaus für alles aufgeschlossen, also das Gegenteil von borniert war. Auf
diese Weise hat er Talente gefordert — etwa Klaus Heger, einen ausgesprochenen
Theoretiker, oder Georg Bossong, dessen Dissertation zu den spanischen Überset-
zungen aus dem Arabischen so herausragend war, dass sie gleich als Habilitations-
schrift anerkannt werden konnte6. Baidinger war im Übrigen nicht nur selbst ein
gewaltiger Arbeiter — er verstand es auch, andere zur Arbeit anzuhalten. Daraus sind
eine Reihe von Wörterbuch-Projekten entstanden (Dictionnaire de V Anden Gascon,
Dictionnaire Etymologique de l’Anden Fran^ais').
Bei alldem besaß Baidinger eine wunderbare Fähigkeit zur Selbstironie. Er war
das lebende Gegenbeispiel zur Humorlosigkeit und zum Bierernst von Lexikologen,
über den er sich oft genug lustig gemacht hat. Kein Wunder, dass zu seinen Lieblings-
Lektüren Autoren mit sprachlicher Kreativität und Wortwitz wie Francois Rabelais
im 16. oder San-Antonio (Fredenc Dard) im 20. Jh. zählten.
Hier kann nun der cursus honorum fortgesetzt werden — denn dass ein solcher
Wissenschaftler vielfach geehrt wurde, dürfte selbstverständlich sein. Baidinger hat
Gastprofessuren an vielen Universitäten des In- und Auslands wahrgenommen, er hat
zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten und eine Vielzahl von Ehrendok-
toraten, insbesondere aus der Ibero-Romania und aus Lateinamerika, entgegen-
 
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