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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Mertens, Dieter: Arno Borst (8.5.1925-24.4.2007)
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0179
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NACHRUFE

meinem letzten Buch rechne ich mich zu jenen und zähle auf diese.“ Dies ist der
letzte Satz seines Vorworts zur genannten Edition und zugleich der Schlußsatz eines
Gelehrtenlebens, das der Bedeutung des Rechnens und Zählens der „gestundeten
Zeit“ die eindringlichsten Forschungen gewidmet hat.
Borst befragte die Vergangenheit nicht, um bloß das Echo seiner Frage zu
hören. Vielmehr hat ihn der Nachvollzug der Fragen und Antworten Hermanns des
Lahmen zu einem der originellsten und ungewöhnlichsten Mediävisten werden las-
sen und ihn zu seiner wichtigsten Entdeckung geführt, der karolingischen Kalen-
derreform. Im „Totengespräch“ mit dem Reichenauer Gelehrten des 11. Jahrhun-
derts wurde ihm dieser zum „Zeitgenossen“, Anreger und Herausforderer. Borst
faßte den Plan, die naturkundlichen Schriften Hermanns herauszugeben. Hermann
war zwar auch, aber eben nicht nur em bedeutender Chronikautor; doch Borst
folgte ihm entschlossen auf das Feld der Wissenschaften von der Zahl und den
Zahlenverhältnissen, der Messung und Bestimmung der Zeit. Er wurde damit zum
Wissenschaftshistoriker des Quadriviums — das dem modernen Historiker als dem
späten Erben nur der Wortwissenschaften von Hause aus fremd ist - und der noch
ungeteilten zwei Kulturen „im Niemandsland zwischen Mathematik und Natur-
wissenschaften, Literatur und Historie“.
In vier großen Sondagen, imponierenden Längsschnitten, öffnete er das Feld.
Stets ging er den Quellen Hermanns bis zu ihren meist antiken Wurzeln nach und
gab Ausblicke auf Wandlungen und Nachwirkungen. 1983 legte er eine Geschichte
der „Rithmimachie“, des mittelalterlichen Zahlenkampfspiels, vor. Dieses ist intel-
lektuell anspruchsvolle Unterhaltungsmathematik, verbunden mit musikalischer
Harmonielehre, von Borst eingebettet in eine Kulturgeschichte des Spiels bis hin zu
modernen Spieltheorien und den Computerspielen. Dann verfolgte er die Wande-
rungen und Wandlungen des hellenistischen Astrolabs und seine Aneignung durch
die klösterliche Wissenschaft des 11. Jahrhunderts (1989). Die Sach- und Wortge-
schichte der Zeitmessung, seit dem 4. Jahrhundert „computus“ genannt, spannte er
von der Antike bis zur Gegenwart (1990, 32004; englisch 1993, italienisch 1997). Ein
neues Bild von der mittelalterlichen Erforschung der Natur zeichnete er in der
Rezeptionsgeschichte der Naturalis historia des Plinius von der Antike bis zur
Renaissance (1994, 21995); die Quellenforschungen zu Hermann dem Lahmen führ-
ten einmal mehr zum fränkischen Königshof um 780. Seit 1988 wurde es Borst
immer klarer, daß die den naturkundlichen Schriften fast regelmäßig beigefügten
Kalender all das zusammenfaßten, was er zerstreut vorgefunden und erforscht hatte,
und daß diese Kalender das Ergebnis einer Kalenderreform Karls des Großen sind,
greifbar in einem Prototyp des „Reichskalenders“ aus dem Jahr 789. Borst stellte nun
„Die karolingische Kalenderreform“ (1998) endgültig in das Zentrum seiner For-
schungen und editorischen Anstrengungen. Die karolingische Kalenderreform
berechnete nicht das Kalenderjahr anders, sondern füllte und gliederte es in den
Kern- und Rahmentexten, den Tageszeilen und Zonenspalten neu mittels römischer
Naturgeschichte, boethiamscher Zahlenkunde, hellenistischer Sternkunde, christlicher
Kultgeschichte und benediktmischer Zeitordnung. In diesem Kalender erkannte
Borst nicht zuerst ein chronologisches Zählwerk, sondern eine neue Zeitdeutung
 
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