Arno Borst | 193
und Zeitenordnung, einen anthropologischen Entwurf mit dem Kalendertag als dem
Hauptmaß erfahrener Gegenwart. 2001 erschien die Edition des karolingischen
Reichskalenders und seiner bis ins 12. Jahrhundert in 400 Handschriften greifbaren
Überlieferung in drei großen Bänden, 2006 folgte, ebenfalls in drei Bänden, die
schon genannte Edition der zugehörigen komputistischen Texte. Noch haben Borsts
Entdeckung und Edition des Reichskalenders die angemessene Würdigung nicht
erfahren. Zu seiner Enttäuschung verengte sich die erste Diskussion der wenigen
Kalender-Experten auf spezielle Überlieferungsfragen. Borst suchte die Perspektive
zu weiten und den „Streit um den karolingischen Kalender“ (2004) auf die wissen-
schaftsgeschichtlichen Hintergründe zu lenken, die er doch schon breit entfaltet
hatte. Sem oben zitiertes Vorwort vom April 2006 rechnet auf die Gegenwärtigen
freilich nicht mehr.
Dabei hat Borst viel Anerkennung erfahren. Ihm sind hohe und höchste Prei-
se zuerkannt worden, acht insgesamt. Für die komputistischen Forschungen erhielt
er 1996 den reich dotierten Balzan-Preis, den sogenannten Nobelpreis für Geistes-
wissenschaftler; in Gestalt der Arno-Borst-Stiftung zur Förderung der mediävistischen
Geschichtswissenschaften, die Projekte der Monumenta Germaniae Historica unter-
stützt, ist er über Borsts Tod hinaus nachhaltig nützlich. Zudem ist Borst der wohl
meistgelesene deutsche Mittelalterhistoriker. Seine Dissertation über „Die Katha-
rer“ (1953) ist neunmal aufgelegt worden, davon siebenmal als Taschenbuch, in fran-
zösischer Sprache viermal; die umfangreiche Habilitationsschrift „Der Turmbau zu
Babel“ (1957-1962), die er selber sein „sechsbändiges Monstrum“ nannte, erschien
nach über 30 Jahren als Taschenbuchkassette noch einmal (1995); die „Reden über
die Staufer“ (1978) erfuhren vier Auflagen, fünf die exemplarischen Lebensbe-
schreibungen von zwanzig „Mönchen am Bodensee 610—1525“ (1978), vier die
Aufsatzsammlung „Barbaren, Ketzer und Artisten“ (1988), dazu zwei in englischer
und eine in italienischer Sprache. Geradezu ein Hausbuch wurden die an 100 Tex-
ten vorgestellten „Lebensformen im Mittelalter“ (1973), seit 35 Jahren im Handel
in mindestens 22 Auflagen, zwei italienische und eine japanische nicht gerechnet;
die Breitenwirkung der „Lebensformen“ hat man nicht zu Unrecht mit der von
Gustav Freytags „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ verglichen. Borst pfleg-
te von Anfang an einen eleganten, anschaulichen und eindringlichen Stil, er schrieb
durchaus kunstvoll, aber mied den rhetorischen Furor ebenso wie die modischen
Jargons der Zunft oder des Alltags. Kein Wunder, daß er den Bodensee-Literatur-
preis (1979) und den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1982)
erhielt. Doch mit dem Stil allein ist der enorme Erfolg nicht zu erklären. Anziehend
wirken vielmehr die Art und das Ziel seines Fragens, womit er den Weg ins Mittel-
alter und wieder zum Leser findet. Borst hat sich auf Jakob Burckhardt und Johan
Huizinga berufen, um sein Interesse an der Vielfalt der Antworten zu erklären, wel-
che die „duldenden, strebenden und handelnden Menschen“ auf die Frage nach der
Bewältigung ihres individuellen Daseins und des sozialen Lebens gegeben haben.
Das ist Burckhardts und Borsts anthropologischer Ausgangspunkt. Diese Antworten
der „Minderheit der jetzt Lebenden“ zu dolmetschen anstatt die Vergangenheit zu
verteidigen oder anzuklagen, sah er als die Aufgabe des Historikers an, der damit im
und Zeitenordnung, einen anthropologischen Entwurf mit dem Kalendertag als dem
Hauptmaß erfahrener Gegenwart. 2001 erschien die Edition des karolingischen
Reichskalenders und seiner bis ins 12. Jahrhundert in 400 Handschriften greifbaren
Überlieferung in drei großen Bänden, 2006 folgte, ebenfalls in drei Bänden, die
schon genannte Edition der zugehörigen komputistischen Texte. Noch haben Borsts
Entdeckung und Edition des Reichskalenders die angemessene Würdigung nicht
erfahren. Zu seiner Enttäuschung verengte sich die erste Diskussion der wenigen
Kalender-Experten auf spezielle Überlieferungsfragen. Borst suchte die Perspektive
zu weiten und den „Streit um den karolingischen Kalender“ (2004) auf die wissen-
schaftsgeschichtlichen Hintergründe zu lenken, die er doch schon breit entfaltet
hatte. Sem oben zitiertes Vorwort vom April 2006 rechnet auf die Gegenwärtigen
freilich nicht mehr.
Dabei hat Borst viel Anerkennung erfahren. Ihm sind hohe und höchste Prei-
se zuerkannt worden, acht insgesamt. Für die komputistischen Forschungen erhielt
er 1996 den reich dotierten Balzan-Preis, den sogenannten Nobelpreis für Geistes-
wissenschaftler; in Gestalt der Arno-Borst-Stiftung zur Förderung der mediävistischen
Geschichtswissenschaften, die Projekte der Monumenta Germaniae Historica unter-
stützt, ist er über Borsts Tod hinaus nachhaltig nützlich. Zudem ist Borst der wohl
meistgelesene deutsche Mittelalterhistoriker. Seine Dissertation über „Die Katha-
rer“ (1953) ist neunmal aufgelegt worden, davon siebenmal als Taschenbuch, in fran-
zösischer Sprache viermal; die umfangreiche Habilitationsschrift „Der Turmbau zu
Babel“ (1957-1962), die er selber sein „sechsbändiges Monstrum“ nannte, erschien
nach über 30 Jahren als Taschenbuchkassette noch einmal (1995); die „Reden über
die Staufer“ (1978) erfuhren vier Auflagen, fünf die exemplarischen Lebensbe-
schreibungen von zwanzig „Mönchen am Bodensee 610—1525“ (1978), vier die
Aufsatzsammlung „Barbaren, Ketzer und Artisten“ (1988), dazu zwei in englischer
und eine in italienischer Sprache. Geradezu ein Hausbuch wurden die an 100 Tex-
ten vorgestellten „Lebensformen im Mittelalter“ (1973), seit 35 Jahren im Handel
in mindestens 22 Auflagen, zwei italienische und eine japanische nicht gerechnet;
die Breitenwirkung der „Lebensformen“ hat man nicht zu Unrecht mit der von
Gustav Freytags „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ verglichen. Borst pfleg-
te von Anfang an einen eleganten, anschaulichen und eindringlichen Stil, er schrieb
durchaus kunstvoll, aber mied den rhetorischen Furor ebenso wie die modischen
Jargons der Zunft oder des Alltags. Kein Wunder, daß er den Bodensee-Literatur-
preis (1979) und den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1982)
erhielt. Doch mit dem Stil allein ist der enorme Erfolg nicht zu erklären. Anziehend
wirken vielmehr die Art und das Ziel seines Fragens, womit er den Weg ins Mittel-
alter und wieder zum Leser findet. Borst hat sich auf Jakob Burckhardt und Johan
Huizinga berufen, um sein Interesse an der Vielfalt der Antworten zu erklären, wel-
che die „duldenden, strebenden und handelnden Menschen“ auf die Frage nach der
Bewältigung ihres individuellen Daseins und des sozialen Lebens gegeben haben.
Das ist Burckhardts und Borsts anthropologischer Ausgangspunkt. Diese Antworten
der „Minderheit der jetzt Lebenden“ zu dolmetschen anstatt die Vergangenheit zu
verteidigen oder anzuklagen, sah er als die Aufgabe des Historikers an, der damit im