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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Mertens, Dieter: Arno Borst (8.5.1925-24.4.2007)
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NACHRUFE

Sinne Huizingas die geistigen Formen pflege, „die uns zu Mitmenschen der Gegen-
wärtigen, Vergangenen und Zukünftigen machen“. Borsts Ernst und Nachdenk-
lichkeit gründen in der nüchternen Akzeptanz der „aufWiderruf gestundeten Zeit“
als Bedingung für einen sinnvollen Vollzug von Geschichte und Leben, sie verbin-
den die Vielfalt des Besonderen mit dem Allgemeinen - und sind nicht ohne
Emphase und Pathos.
Borsts Entwicklung als Historiker verlief indes nicht geradlinig. Die Göttinger
Dissertation über die Katharer, ein großer Wurf nach kurzem Studium, und die 2300
Seiten starke Münsteraner Habilitationsschrift haben den weiten Blick auf den
Gegenstand als ganzen und die geistesgeschichtliche Methode gemeinsam. „Der
Turmbau zu Babel“ bietet, so der erläuternde Untertitel, die „Geschichte der Mei-
nungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker“. Borst handelt also
über em zentrales Thema universalgeschichtlichen Denkens, und dies von den frühe-
sten Zeugnissen bis ms 20. Jahrhundert. So ist seine Untersuchung selber eine uni-
versalgeschichtliche. Bei einer „bloßen Geistesgeschichte“ wollte er aber nicht halt-
machen. Er bedachte die Wechselwirkung von Denken und Realität und achtete
nicht nur auf die Olympier. Bei seinem Erscheinen (1957—1962) überforderte das
Werk die Fachkollegen. Sie schreckten weniger vor dem enormen Umfang zurück,
den doch ein Band mit Zusammenfassungen und Register detailliert erschloß, als
vielmehr vor der Fülle für unmaßgeblich erachteter Meinungen. Als aber die
Taschenbuchausgabe 1995 erschien, war die Geschichte von Meinungen über
Geschichte ein beliebter Forschungsgegenstand — nun als postmoderne Rekonstruk-
tion von Geschichtsbildern.
Neben und nach dem „Turmbau“ plante Borst erst, eine umfassende
Geschichte des Rittertums aus der Perspektive der universalen Geistesgeschichte zu
schreiben, dann sich in die Universitätsgeschichte zu vertiefen. Wegen der Widrig-
keiten der Hochschulsituation erst in Erlangen und dann in Konstanz kamen die
Bücher nicht zustande, es blieb bei wichtigen Aufsätzen zu beiden Themen. Über-
dies verschob sich Borsts Neigung „von der universalen Geistesgeschichte zur Lan-
des- und Sozialgeschichte“. Untersuchungen zu den Nürnberger Sebaldslegenden
(1966) und den „Mönchen am Bodensee“ (1978), die „Ritte über den Bodensee“,
eine Aufsatzsammlung (1992), nicht zu vergessen, sind die fränkischen und die ale-
mannischen Früchte dieses neuen Interesses.
Der wissenschaftsgeschichtlich wichtigste Mönch am Bodensee ist indes Her-
mann der Lahme aus dem Kloster Reichenau - dank Arno Borst. Dank dem Mönch
Hermann fand Borst nicht allein zu neuen Themen, sondern auch zu einer neuen
Methode. Er wechselte, wie er sagt, „vom weiten zum genauen Blick“ und wurde —
am Computer — zum peniblen Text- und Kalendereditor. Sein literarisches Talent
auszuleben, wäre ihm ein Leichteres gewesen. Die Geschichte Borsts mit Hermann
dem Lahmen ist bereits ein Kapitel europäischer Wissenschaftsgeschichte. Borst hat
es erst nach seiner Emeritierung geschrieben, von Verpflichtungen befreit, die er als
Last empfand, zu Verpflichtungen bereit, die er sich selber auferlegte. Sein Schüler
und Freund Gustav Seibt hat Borsts ungemein fruchtbare Editionsarbeit im hohen
Alter passend mit der Vita des alten Mommsen verglichen.
 
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