23. Januar 2010
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Abb. 1: Hagia Sophia, Istanbul
Diversität von Sprachen war zudem Anlass dafür, mich als Kunsthistoriker
mit der Frage zu beschäftigen, inwiefern auch beim Sehen Diversitäten eine Rolle
spielen.
In meiner Dissertation habe ich versucht auszuloten, ob wir Skulpturen von
Michelangelo so wahrnehmen, beziehungsweise so wahrnehmen können, wie der
Künstler und seine Zeitgenossen im 16. Jahrhundert. Ich habe Beschreibungen und
Nachzeichnungen dieser Skulpturen über fünf Jahrhunderte hinweg verglichen und
von hier aus auch erste Ansätze zu einer Geschichte der Kunstbeschreibung entwor-
fen. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Blickbewegung in dieser Textgattung von
Anfang an eine wichtige Rolle spielt:Viele Texte beschreiben Kunstwerke indem sie
den Blick von Betrachtern thematisieren. Ein sehr frühes Beispiel kommt in Prokops
Schilderung der Hagia Sophia (Abb. 1) vor, die um 554—555 verfasst wurde:
Die riesige [goldene] Kuppel scheint nicht auf dem festen Bau zu ruhen, son-
dern am Himmel zu hängen [...]. Alle die Bauglieder, die [...] ineinander
gefügt [sich] gegenseitig in Schwebe halten und nur auf ihre nächste Umge-
bung stützen, leihen dem Werk eine einzigartige, ganz ausgezeichnete Harmo-
nie, lassen aber das Auge des Betrachters nicht lange an einer Stelle, sondern
jeder Einzelteil zieht den Blick ab, um ihn schnellstens auf sich zu lenken.
Rasch wandert unausgesetzt das Auge hm und her, da sich der Betrachter nicht
im Stande fühlt auszuwählen, was er mehr von all dem anderen bewundern
soll. Indessen mögen die Menschen auch so nach allen Seiten hin ihr Augen-
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Abb. 1: Hagia Sophia, Istanbul
Diversität von Sprachen war zudem Anlass dafür, mich als Kunsthistoriker
mit der Frage zu beschäftigen, inwiefern auch beim Sehen Diversitäten eine Rolle
spielen.
In meiner Dissertation habe ich versucht auszuloten, ob wir Skulpturen von
Michelangelo so wahrnehmen, beziehungsweise so wahrnehmen können, wie der
Künstler und seine Zeitgenossen im 16. Jahrhundert. Ich habe Beschreibungen und
Nachzeichnungen dieser Skulpturen über fünf Jahrhunderte hinweg verglichen und
von hier aus auch erste Ansätze zu einer Geschichte der Kunstbeschreibung entwor-
fen. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Blickbewegung in dieser Textgattung von
Anfang an eine wichtige Rolle spielt:Viele Texte beschreiben Kunstwerke indem sie
den Blick von Betrachtern thematisieren. Ein sehr frühes Beispiel kommt in Prokops
Schilderung der Hagia Sophia (Abb. 1) vor, die um 554—555 verfasst wurde:
Die riesige [goldene] Kuppel scheint nicht auf dem festen Bau zu ruhen, son-
dern am Himmel zu hängen [...]. Alle die Bauglieder, die [...] ineinander
gefügt [sich] gegenseitig in Schwebe halten und nur auf ihre nächste Umge-
bung stützen, leihen dem Werk eine einzigartige, ganz ausgezeichnete Harmo-
nie, lassen aber das Auge des Betrachters nicht lange an einer Stelle, sondern
jeder Einzelteil zieht den Blick ab, um ihn schnellstens auf sich zu lenken.
Rasch wandert unausgesetzt das Auge hm und her, da sich der Betrachter nicht
im Stande fühlt auszuwählen, was er mehr von all dem anderen bewundern
soll. Indessen mögen die Menschen auch so nach allen Seiten hin ihr Augen-