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SITZUNGEN
merk richten und voll Staunen über alles ihre Brauen zusammenziehen, es
übersteigt doch ihre Kräfte, die Kunst ganz zu verstehen, und so entfernen sie
sich stets von dort ganz benommen von der überwältigenden Größe des Ein-
drucks.2
Um das Bauwerk zu charakterisieren, schlägt Prokop einen Umweg ein. Er
beschreibt das Verhalten der Augen von Betrachtern, diskutiert wovon sie angezogen
werden und wie sie sich bewegen — sie wandern ,,unausgesetzt hin und her“. Damit
erfasst er die von dem Architekten zweifellos intendierte, ästhetische Wirkung der
goldenen Kuppel, die schwerelos erscheint — die Strebepfeiler sind nur von außen
sichtbar, die Wände im Innern mit Arkaden und Fenstern ganz durchbrochen.
Erst seit der Mitte des 1 8. Jahrhunderts entstehen ausführliche Beschreibungen
realer Kunstwerke in größerer Zahl. Eine nachhaltig prägende Wirkung übt Denis
Diderot aus, der in seinen Besprechungen der Pariser Salons originelle Muster der
Gemäldebeschreibung entwickelt hat. Dabei geht er auch ausführlich auf die Blick-
bewegung des Betrachters ein. Im Salon von 1767 erklärt er in Bezug auf Joseph-
Marie Viens Altarbild, Der Hl. Dionysius predigt in Frankreich (Abb. 2), dass jedes gelun-
gene Bild eine Kompositionslinie beinhaltet, die das Auge des Betrachters führt, und
dass die Beschreibung des Bildes sich an diese Linie halten sollte:
Voici donc le chemin de cette composition, la Religion, fange, le saint, les
femmes qui sont a ses pieds, les auditeurs qui sont sur le fond, ceux qui sont ä
gauche aussi sur le fond, les deux grandes figures de femmes qui sont debout,
le vieillard incline ä leurs pieds, et les deux figures, l’une d’homme et l’autre de
femme vues par le dos et placees tout ä fait sur le devant, ce chemin descen-
dant mollement et serpentant largement [...]. II y a dans toute composition un
chemin, une ligne [...] que j’appellerai ligne de liaison [...]. Si [...] ses circon-
volutions sont petites, multipliees, rectilmeaires, anguleuses, la composition sera
louche, obscure; l’ceil irregulierement promene, egare dans un labyrinthe, saisi-
ra difficilement la liaison. [...]. Si eile s’arrete, la composition laissera un vide,
un trou. [...] Une composition bien ordonnee n’aura jamais qu’une seule vraie,
unique ligne de liaison; et cette ligne conduira et celui qui la regarde et celui
qui tente de la decnre.3
Für Diderot hängt also die Qualität eines Gemäldes entscheidend davon ab, ob es
eine Kompositionslinie besitzt und wie diese Linie beschaffen ist. Sie darf nicht zu
kleinteilig sein, sie muss großzügig und ohne Unterbrechungen verlaufen, um das
Auge auf angenehme Weise durch das Bild hindurch zu führen. Aufschlussreich ist
auch Diderots Aussage über die Funktion der Kompositionslinie: Sie leitet das Auge
des Betrachters und soll zugleich die Reihenfolge der Gemäldebeschreibung bestim-
men: „cette ligne conduira et celui qui la regarde et celui qui tente de la decnre“.
2 Caesariensis Procopius, Bauten, dt. Übs. von Otto Veh, München 1977, S. 27 (Aedificia I, 1, 45).
’ Denis Diderot, Salons III, ed. E. M. Bukdahl et al., Paris 1995, pp. 95 & 269.
SITZUNGEN
merk richten und voll Staunen über alles ihre Brauen zusammenziehen, es
übersteigt doch ihre Kräfte, die Kunst ganz zu verstehen, und so entfernen sie
sich stets von dort ganz benommen von der überwältigenden Größe des Ein-
drucks.2
Um das Bauwerk zu charakterisieren, schlägt Prokop einen Umweg ein. Er
beschreibt das Verhalten der Augen von Betrachtern, diskutiert wovon sie angezogen
werden und wie sie sich bewegen — sie wandern ,,unausgesetzt hin und her“. Damit
erfasst er die von dem Architekten zweifellos intendierte, ästhetische Wirkung der
goldenen Kuppel, die schwerelos erscheint — die Strebepfeiler sind nur von außen
sichtbar, die Wände im Innern mit Arkaden und Fenstern ganz durchbrochen.
Erst seit der Mitte des 1 8. Jahrhunderts entstehen ausführliche Beschreibungen
realer Kunstwerke in größerer Zahl. Eine nachhaltig prägende Wirkung übt Denis
Diderot aus, der in seinen Besprechungen der Pariser Salons originelle Muster der
Gemäldebeschreibung entwickelt hat. Dabei geht er auch ausführlich auf die Blick-
bewegung des Betrachters ein. Im Salon von 1767 erklärt er in Bezug auf Joseph-
Marie Viens Altarbild, Der Hl. Dionysius predigt in Frankreich (Abb. 2), dass jedes gelun-
gene Bild eine Kompositionslinie beinhaltet, die das Auge des Betrachters führt, und
dass die Beschreibung des Bildes sich an diese Linie halten sollte:
Voici donc le chemin de cette composition, la Religion, fange, le saint, les
femmes qui sont a ses pieds, les auditeurs qui sont sur le fond, ceux qui sont ä
gauche aussi sur le fond, les deux grandes figures de femmes qui sont debout,
le vieillard incline ä leurs pieds, et les deux figures, l’une d’homme et l’autre de
femme vues par le dos et placees tout ä fait sur le devant, ce chemin descen-
dant mollement et serpentant largement [...]. II y a dans toute composition un
chemin, une ligne [...] que j’appellerai ligne de liaison [...]. Si [...] ses circon-
volutions sont petites, multipliees, rectilmeaires, anguleuses, la composition sera
louche, obscure; l’ceil irregulierement promene, egare dans un labyrinthe, saisi-
ra difficilement la liaison. [...]. Si eile s’arrete, la composition laissera un vide,
un trou. [...] Une composition bien ordonnee n’aura jamais qu’une seule vraie,
unique ligne de liaison; et cette ligne conduira et celui qui la regarde et celui
qui tente de la decnre.3
Für Diderot hängt also die Qualität eines Gemäldes entscheidend davon ab, ob es
eine Kompositionslinie besitzt und wie diese Linie beschaffen ist. Sie darf nicht zu
kleinteilig sein, sie muss großzügig und ohne Unterbrechungen verlaufen, um das
Auge auf angenehme Weise durch das Bild hindurch zu führen. Aufschlussreich ist
auch Diderots Aussage über die Funktion der Kompositionslinie: Sie leitet das Auge
des Betrachters und soll zugleich die Reihenfolge der Gemäldebeschreibung bestim-
men: „cette ligne conduira et celui qui la regarde et celui qui tente de la decnre“.
2 Caesariensis Procopius, Bauten, dt. Übs. von Otto Veh, München 1977, S. 27 (Aedificia I, 1, 45).
’ Denis Diderot, Salons III, ed. E. M. Bukdahl et al., Paris 1995, pp. 95 & 269.