23. Januar 2010 | 79
Abb. 2: Joseph-Marie Vien,
der Hl. Dionysius predigt in Frankreich,
1767, mit Einzeichnung der von Diderot
beschriebenen Kompositionslinie
Im 19. und 20. Jahrhundert nimmt die Anzahl der Kunstbeschreibungen expo-
nentiell zu. Dies ist einerseits Folge der Entstehung des akademischen Faches Kunst-
geschichte, andererseits der technisch- und medienbedingt schnell wachsenden Zahl
von Reproduktionen in Kunstzeitschriften und Kunstbüchern. Blickbewegungen
bleiben ein wichtiges Thema von Kunstbeschreibungen. Eine belastbare, quantitati-
ve Analyse lässt sich kaum durchfuhren, ich schätze aber, dass bis zu 10% der Kunst-
beschreibungen Blickbewegungen thematisieren. Im Rahmen einer Kunstgeschich-
te, die sich der Stilgeschichte, das heißt der Geschichte der Veränderung von Formen
verschrieben hat, wurde um 1900 die Bedeutung von Blickbewegungen besonders
hervorgehoben. Die Vielfalt der Kunst wurde damals auf Unterschiede im Blickver-
halten zurückgeführt. Blickbewegungen wurden sowohl zur Erklärung von chrono-
logischen als auch von geographischen Unterschieden zwischen Kunstwerken her-
angezogen. So erklärt auf der einen Seite Heinrich Wölfflin 1899 den Übergang von
der Verwirrung der Frührenaissance, also der Kunst des 15. Jahrhunderts, zur Ruhe
der Hochrenaissance im frühen 16. Jahrhundert mit dem Bedürfnis des Auges nach
Entspannung:
Abb. 2: Joseph-Marie Vien,
der Hl. Dionysius predigt in Frankreich,
1767, mit Einzeichnung der von Diderot
beschriebenen Kompositionslinie
Im 19. und 20. Jahrhundert nimmt die Anzahl der Kunstbeschreibungen expo-
nentiell zu. Dies ist einerseits Folge der Entstehung des akademischen Faches Kunst-
geschichte, andererseits der technisch- und medienbedingt schnell wachsenden Zahl
von Reproduktionen in Kunstzeitschriften und Kunstbüchern. Blickbewegungen
bleiben ein wichtiges Thema von Kunstbeschreibungen. Eine belastbare, quantitati-
ve Analyse lässt sich kaum durchfuhren, ich schätze aber, dass bis zu 10% der Kunst-
beschreibungen Blickbewegungen thematisieren. Im Rahmen einer Kunstgeschich-
te, die sich der Stilgeschichte, das heißt der Geschichte der Veränderung von Formen
verschrieben hat, wurde um 1900 die Bedeutung von Blickbewegungen besonders
hervorgehoben. Die Vielfalt der Kunst wurde damals auf Unterschiede im Blickver-
halten zurückgeführt. Blickbewegungen wurden sowohl zur Erklärung von chrono-
logischen als auch von geographischen Unterschieden zwischen Kunstwerken her-
angezogen. So erklärt auf der einen Seite Heinrich Wölfflin 1899 den Übergang von
der Verwirrung der Frührenaissance, also der Kunst des 15. Jahrhunderts, zur Ruhe
der Hochrenaissance im frühen 16. Jahrhundert mit dem Bedürfnis des Auges nach
Entspannung: