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SITZUNGEN
links lesen und schreiben, Gemälde anders als Deutsche? Inwiefern prägt auch die
Sprache, die wir gelernt haben, unsere Wahrnehmung? Emen ersten Schritt in diese
Richtung konnten wir im Rahmen der soeben erwähnten Studie unternehmen.
Hier kam es darauf an, Unterschiede von Gruppen mit unterschiedlicher Expertise,
d.h. verschiedener Ausbildung und verschiedenen Interessen festzustellen. Die 96
Versuchspersonen wurden auf Grund telefonischer Interviews so ausgewählt, dass
zwei möglichst extreme Gruppen gebildet wurden: 48 Kunstexperten (Studierende
der Kunstgeschichte vom 5. Semester an) und 48 Kunstlaien (Studierende anderer
Fächer der geisteswissenschaftlichen Fakultäten, die in Fragebögen angeben, sich
nicht für bildende Kunst zu interessieren, kaum ms Museum zu gehen, keine Kunst-
bücher zu lesen). Angesichts der sehr klaren Unterschiede zwischen Sprechen und
Schweigen hat es uns überrascht, dass die Datensätze von Experten und Laien auf
den ersten Blick nahezu deckungsgleich sind. Sie weisen kaum Unterschiede auf,
weder bei traditionellen Parametern wie der Dauer von Fixationen und der Länge
von Sakkaden, noch bei der Auswertung der häufig wiederholten Clusterübergänge
(Abb. 6)1?. Das ist insofern überraschend, als die Laien und Experten dieser Studie
sich eindeutig unterscheiden - sowohl bei den Fragebögen, als auch im Nachhinein
bei den gesprochenen Beschreibungen. Beruhigend ist dabei, dass es den Anschein
hat, dass Laien und Experten gleichermaßen befähigt sind, Gemälde ästhetisch zu
erfahren.
Erste Hinweise einer Korrelation von Expertise und Blickbewegung sind in
den letzten Wochen aufgekommen, als wir begonnen haben, die Daten in getrenn-
ten Zeitsegmenten auszuwerten. Wertet man die ersten 30 Sekunden der Betrach-
tung einer jeden Versuchsperson aus, ergibt sich bei Lippis Verkündigung em deutli-
cher Unterschied: Experten wiederholen bereits in den ersten Sekunden bestimmte
Sakkaden, die die Struktur des Bildes ausmachen, Laien brauchen aber etwa eine
halbe Minute bis sie sich auf dieselbe Weise darauf konzentrieren; sie benötigen also
eine längere Zeit, um die Struktur zu erkennen. Eine solche Verzögerung lässt sich
bei Bruegels Blindensturz nicht ausmachen. Offensichtlich ist die Struktur des Blin-
densturzes so trivial, dass Laien und Experten sie auf Anhieb erkennen. Wir vermu-
ten, dass der Unterschied der durch die Expertise bedingt ist, umso größer ausfällt,
je komplexer das Kunstwerk ist. Eine These, die in kommenden Studien zu über-
prüfen ist.
Der technische Fortschritt physiologischer Messverfahren — von der Magne-
tresonanztomographie über die Elektroenzephalographie bis zum Eye-Tracking —
hat in den vergangenen Jahrzehnten neuartige Erkenntnisse ermöglicht. Wir können
nun besser verstehen, wie wir wahrnehmen, erfahren und denken. Damit sind Vor-
aussetzungen geschaffen, mit deren Hilfe klassische Fragen der Geisteswissenschaften
besser beantwortet werden können. Es gibt Felder, in denen Geisteswissenschaftler
und empirische Forscher Zusammenarbeiten, in denen differenzierte Kategorien und
Fragen der einen mit den ausgefeilten Methoden der anderen produktiv verknüpft
13 Wegen dem Umfang der Daten musste die Auswertung auf je 20 Versuchspersonen eingeschränkt
werden.
SITZUNGEN
links lesen und schreiben, Gemälde anders als Deutsche? Inwiefern prägt auch die
Sprache, die wir gelernt haben, unsere Wahrnehmung? Emen ersten Schritt in diese
Richtung konnten wir im Rahmen der soeben erwähnten Studie unternehmen.
Hier kam es darauf an, Unterschiede von Gruppen mit unterschiedlicher Expertise,
d.h. verschiedener Ausbildung und verschiedenen Interessen festzustellen. Die 96
Versuchspersonen wurden auf Grund telefonischer Interviews so ausgewählt, dass
zwei möglichst extreme Gruppen gebildet wurden: 48 Kunstexperten (Studierende
der Kunstgeschichte vom 5. Semester an) und 48 Kunstlaien (Studierende anderer
Fächer der geisteswissenschaftlichen Fakultäten, die in Fragebögen angeben, sich
nicht für bildende Kunst zu interessieren, kaum ms Museum zu gehen, keine Kunst-
bücher zu lesen). Angesichts der sehr klaren Unterschiede zwischen Sprechen und
Schweigen hat es uns überrascht, dass die Datensätze von Experten und Laien auf
den ersten Blick nahezu deckungsgleich sind. Sie weisen kaum Unterschiede auf,
weder bei traditionellen Parametern wie der Dauer von Fixationen und der Länge
von Sakkaden, noch bei der Auswertung der häufig wiederholten Clusterübergänge
(Abb. 6)1?. Das ist insofern überraschend, als die Laien und Experten dieser Studie
sich eindeutig unterscheiden - sowohl bei den Fragebögen, als auch im Nachhinein
bei den gesprochenen Beschreibungen. Beruhigend ist dabei, dass es den Anschein
hat, dass Laien und Experten gleichermaßen befähigt sind, Gemälde ästhetisch zu
erfahren.
Erste Hinweise einer Korrelation von Expertise und Blickbewegung sind in
den letzten Wochen aufgekommen, als wir begonnen haben, die Daten in getrenn-
ten Zeitsegmenten auszuwerten. Wertet man die ersten 30 Sekunden der Betrach-
tung einer jeden Versuchsperson aus, ergibt sich bei Lippis Verkündigung em deutli-
cher Unterschied: Experten wiederholen bereits in den ersten Sekunden bestimmte
Sakkaden, die die Struktur des Bildes ausmachen, Laien brauchen aber etwa eine
halbe Minute bis sie sich auf dieselbe Weise darauf konzentrieren; sie benötigen also
eine längere Zeit, um die Struktur zu erkennen. Eine solche Verzögerung lässt sich
bei Bruegels Blindensturz nicht ausmachen. Offensichtlich ist die Struktur des Blin-
densturzes so trivial, dass Laien und Experten sie auf Anhieb erkennen. Wir vermu-
ten, dass der Unterschied der durch die Expertise bedingt ist, umso größer ausfällt,
je komplexer das Kunstwerk ist. Eine These, die in kommenden Studien zu über-
prüfen ist.
Der technische Fortschritt physiologischer Messverfahren — von der Magne-
tresonanztomographie über die Elektroenzephalographie bis zum Eye-Tracking —
hat in den vergangenen Jahrzehnten neuartige Erkenntnisse ermöglicht. Wir können
nun besser verstehen, wie wir wahrnehmen, erfahren und denken. Damit sind Vor-
aussetzungen geschaffen, mit deren Hilfe klassische Fragen der Geisteswissenschaften
besser beantwortet werden können. Es gibt Felder, in denen Geisteswissenschaftler
und empirische Forscher Zusammenarbeiten, in denen differenzierte Kategorien und
Fragen der einen mit den ausgefeilten Methoden der anderen produktiv verknüpft
13 Wegen dem Umfang der Daten musste die Auswertung auf je 20 Versuchspersonen eingeschränkt
werden.