Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2010
DOI Kapitel:
Veranstaltungen
DOI Kapitel:
Mitarbeitervortragsreihe "Wir forschen. Für Sie"
DOI Artikel:
Sommer, Andreas Urs: Nietzsche kommentieren. Perspektiven und Probleme
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0149
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
l.Juli 2010 | 165

der Gedanke innerhalb des Werkes konstant bleibt, sich erweitert oder sich verändert.
Zweitens wird der Kontextualisierungshorizont ausgeweitet auf Nietzsches gesamtes
CEuvre, zunächst im Blick auf die unmittelbar benachbarten Schriften sowie den
zeitgleichen Nachlass, sodann im Blick auf frühere und spätere Schriften und den
damit zusammenhängenden Nachlass. Drittens ist schliesslich eine über Nietzsche
hinausgehende Kontextualisierung zu erbringen: In welche zeitgenössischen oder
weit in die Geistesgeschichte zurückreichenden Debatten fügt sich die fragliche Aus-
sage em und wie modiflzert sie diese Debatten?
Das Desiderat der Kontextualisierung lässt sich auch als Konfiguration
beschreiben: Der Kommentar soll konfigurieren, d. h. er soll parallele Denkfiguren aus
demselben Werk Nietzsches, aus seinen anderen Werken und schliesslich aus dem
Feld ausserhalb von Nietzsche mit der zu erläuternden Textstelle in Verbindung brin-
gen; er soll Konstanzen und Transformationen ebenso zeigen wie situative Fest-
legungen. Ohnehin erscheint Nietzsche als exemplarisch situativer Denker, der stets neu
reagiert auf Gegebenes, das er verändern, von dem er sich unterscheiden will, indem
er sein Eigenes — sich selbst — dem Gegebenen entgegenstellt. Je nachdem, was
Nietzsche gerade vorfindet, setzt er (sich) dagegen.
Der Horizont, in dem sich ein Kommentator Nietzsches bewegt, ist damit
potentiell unendlich. So könnte jede Einzelstellenerläuterung schliesslich zu einem
monströsen Kommentar über alles, gewissermaßen zur Verdoppelung des Univer-
sums auswachsen. Daher ist als Forderung sowohl theoretisch wie praktisch-pragma-
tisch unerlässlich: Der Kommentar soll kondensieren. Die Kontextualisierung ist nur in
größtmöglicher Verknappung den Benutzern dienlich. Damit ist Exemplarität und
funktionale Verkürzung in der Darstellung der Kontexte unentbehrlich. In nuce, in
einer Nussschale hat der Kommentar sein Material zu präsentieren, egal, ob es dabei
um die Entwicklung zentraler Gedanken Nietzsches in der Abfolge seiner Werke, um
die Darstellung von ihm evozierter fremder Gedanken oder um von ihm genannte
Personen der Kulturgeschichte geht. Der Kommentar hat sich an dem auszurichten,
was der Erhellung der zu kommentierenden Stelle tatsächlich dient und soll daher
auf zu viele Ab- und Nebenwege verzichten.
Was folgt aus dem Leitanspruch, der Kommentar solle kontextualisieren? Es
folgt daraus, dass dieser Kommentar zunächst einmal historisiert: Das von Nietzsche
Geschriebene wird in seinem zeitgenössischen intellektuellen Umfeld verortet; es
wird verstanden als etwas zu einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen
Entstandenes, das nicht in vorschneller systematischer Absicht mumifiziert, also als
zeitlose Wahrheit proklamiert werden darf. Diese Historisierung schliesst unweiger-
lich Distanzierung ein: Als Kommentatoren können wir Nietzsche nicht so lesen, als
seien seine Gedanken unmittelbar Antworten auf unsere Fragen, die unter anderen
Umständen, in einer anderen Zeit entstanden sind. Kommentierung als Kontextualisie-
rung entfremdet von Nietzsche, insofern wenigstens wir aufhören, seine Überlegungen
für deckungsgleich mit unseren eigenen Überlegungen zu erklären. Mit der so
verstandenen Kommentierung geht also auch eine Entkanonisierung einher: Das
Kommentierte wird nicht mehr als fraglose, überzeitliche Wahrheit angesehen, son-
dern vielmehr als etwas, was erst aus seinem Umfeld heraus verständlich und nicht
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften