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Antrittsreden
Antrittsrede von Herrn EBERHARD SCHOCKENHOFF
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2010.
Wie stark das eigene Denken und die eigene Herange-
hensweise an Grundfragen eines akademischen Faches
von den Gegenständen geprägt werden, mit denen man
sich in den ersten wissenschaftlichen Gehversuchen
beschäftigt, wird einem in der Regel erst im Nachhin-
ein bewusst. So widerfuhr es mir mit dem mittelalter-
lichen Theologen Thomas von Aquin, dessen Anthro-
pologie und Ethik ich in meiner Dissertation „Bonum
hominis“ untersuchte, mit der mich die katholisch-
theologische Fakultät der Tübinger Universität 1986
promovierte. Aus den ersten noch stark werkimmanent
angelegten Studien zur thomanischen Tugend- und Güterlehre erwuchs eine lang-
anhaltende systematische Inspiration, die mich bis heute anregt. Die philosophische
und theologische Grundlegung der Ethik, die ich in meinen späteren Werken zu
gewinnen versuchte, verdankt nicht nur den formalen Aufriss (eine Mischform aus
Tugend- und Normethik unter dem Primat des Leitgedankens der Tugend) und die
Stoffanordnung, sondern auch viele Einzelanalysen zum Verständnis des mensch-
lichen Handelns entscheidenden Anstößen der thomanischen Ethik. Ihr epochaler
Rang erweist sich, wie mir zunehmend deutlich wurde, weniger durch die architek-
tonische Weite und innere Kohärenz des thomanischen Denkens, von der ich mich
anfangs zu stark faszinieren ließ, sondern von dessen Anschlussfähigkeit für die
Fragestellungen späterer Epochen.
Es ist kein Zufall, dass sich heute verstärkt auch Autoren aus dem Umkreis der
analytischen Philosophie mit dem Werk des Thomas beschäftigen. Auf dem Gebiet
der Ethik scheint mir seine Theorie der praktischen Vernunft, die gegenüber der
aristotelischen Ethik eine beachtliche innovatorische Leistung darstellt, insofern sie
die Begründungsdefizite einer rein lebensweltlichen Morallehre überwindet, eine
geeignete Ausgangsbasis, um Klarheit hinsichtlich des logischen Status moralischer
Urteile - ihrer notwendigen Prinzipien, ihrer eigenständigen Geltung und ihres mit
der Hinwendung zum konkreten abnehmenden Gewissheitsgrades - zu gewinnen.
Jedenfalls legte ich später meiner eigenen Auseinandersetzung mit den verschiede-
nen Strömungen des ethischen Relativismus in der gegenwärtigen Moralphilosophie
Einsichten der thomanischen Ethik zugrunde. Ich benutzte diese als Ausgangsbasis,
um einen Brückenschlag hin zu den grundlegenden Fragestellungen der modernen
Ethik unternehmen zu können. Durch die relecture der thomanischen Theorie der
Lex naturalis verfolgte ich als Schüler meines Tübinger Lehrers Alfons Auer zugleich
das Ziel, die theologische Kontinuität seines Ansatzes einer autonomen Moral im
Antrittsreden
Antrittsrede von Herrn EBERHARD SCHOCKENHOFF
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2010.
Wie stark das eigene Denken und die eigene Herange-
hensweise an Grundfragen eines akademischen Faches
von den Gegenständen geprägt werden, mit denen man
sich in den ersten wissenschaftlichen Gehversuchen
beschäftigt, wird einem in der Regel erst im Nachhin-
ein bewusst. So widerfuhr es mir mit dem mittelalter-
lichen Theologen Thomas von Aquin, dessen Anthro-
pologie und Ethik ich in meiner Dissertation „Bonum
hominis“ untersuchte, mit der mich die katholisch-
theologische Fakultät der Tübinger Universität 1986
promovierte. Aus den ersten noch stark werkimmanent
angelegten Studien zur thomanischen Tugend- und Güterlehre erwuchs eine lang-
anhaltende systematische Inspiration, die mich bis heute anregt. Die philosophische
und theologische Grundlegung der Ethik, die ich in meinen späteren Werken zu
gewinnen versuchte, verdankt nicht nur den formalen Aufriss (eine Mischform aus
Tugend- und Normethik unter dem Primat des Leitgedankens der Tugend) und die
Stoffanordnung, sondern auch viele Einzelanalysen zum Verständnis des mensch-
lichen Handelns entscheidenden Anstößen der thomanischen Ethik. Ihr epochaler
Rang erweist sich, wie mir zunehmend deutlich wurde, weniger durch die architek-
tonische Weite und innere Kohärenz des thomanischen Denkens, von der ich mich
anfangs zu stark faszinieren ließ, sondern von dessen Anschlussfähigkeit für die
Fragestellungen späterer Epochen.
Es ist kein Zufall, dass sich heute verstärkt auch Autoren aus dem Umkreis der
analytischen Philosophie mit dem Werk des Thomas beschäftigen. Auf dem Gebiet
der Ethik scheint mir seine Theorie der praktischen Vernunft, die gegenüber der
aristotelischen Ethik eine beachtliche innovatorische Leistung darstellt, insofern sie
die Begründungsdefizite einer rein lebensweltlichen Morallehre überwindet, eine
geeignete Ausgangsbasis, um Klarheit hinsichtlich des logischen Status moralischer
Urteile - ihrer notwendigen Prinzipien, ihrer eigenständigen Geltung und ihres mit
der Hinwendung zum konkreten abnehmenden Gewissheitsgrades - zu gewinnen.
Jedenfalls legte ich später meiner eigenen Auseinandersetzung mit den verschiede-
nen Strömungen des ethischen Relativismus in der gegenwärtigen Moralphilosophie
Einsichten der thomanischen Ethik zugrunde. Ich benutzte diese als Ausgangsbasis,
um einen Brückenschlag hin zu den grundlegenden Fragestellungen der modernen
Ethik unternehmen zu können. Durch die relecture der thomanischen Theorie der
Lex naturalis verfolgte ich als Schüler meines Tübinger Lehrers Alfons Auer zugleich
das Ziel, die theologische Kontinuität seines Ansatzes einer autonomen Moral im