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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Ventker, Bettina: Götterwohnung,Weltabbild und Bibliothek aus Stein: der ägyptische Tempel als Quelle der religiösen Literatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0094
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25. April 2012

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fig findet sich darin Gedankengut, das sich bis in die ältesten Zeiten der ägyptischen
Geschichte nachweisen lässt. Die Tempel der griechisch-römischen Zeit stellen daher
eine der bedeutendsten Quellen für unser Verständnis über die altägyptische Zivili-
sation dar und können als „Bibliotheken aus Stein“ bezeichnet werden.
Die Inschriften und Darstellungen wurden keineswegs wahllos an irgendwel-
chen Stellen im Tempel angebracht, sondern stehen stets in engstem Zusammenhang
mit dem Raum und dessen Funktion im Kult. Die gesamte Gestaltung unterlag zahl-
reichen komplizierten Regeln und Prinzipien, die unterschiedlichen Dekorations-
elemente erfüllen an ihrem jeweiligen Anbringungsort einen bestimmten Zweck.
Ein diesbezügliches Grundprinzip ist die Vorstellung, dass der ägyptische Tempel ein
Abbild der Welt darstellt, er ist insgesamt als verkleinerter Kosmos gestaltet: Der
untere Bereich (Sockelzone) entspricht dabei dem Erdboden — dargestellt ist, was
sich hierauf befindet: Pflanzen, Tiere oder lange Prozessionsreihen von Gabenbrin-
gern, bei denen es sich v.a. um Personifikationen von Land, Feld und Nil handelt.
Aus diesem mit dem Erdboden gleichgesetzten Bereich wachsen die vorwiegend als
Pflanzen gestalteten Säulen empor, die das Dach des Tempels tragen, das dement-
sprechend als Himmel angesehen wird. Den Großteil der Wände nehmen die in
mehreren Registern angeordneten Ritualszenen ein, in denen die kultische Inter-
aktion zwischen den Menschen — vertreten durch den König als obersten Priester —
und den Göttern abgebildet ist (Abb. 1).
Denn in erster Linie waren diese komplexen und architektonisch ausgefeilten
Gebäude die Wohnstätten der Götter auf Erden, hier war die Gottheit in seiner Sta-
tue auf Erden präsent. Durch die abgebildeten Opfergaben und die geschilderten
Opferhandlungen sind die Götter umfassend versorgt und zuriedengestellt. Der
König verdient sich das Wohlwollen der Götter und erhält in Form einer Gegen-
gabe alles, was er für seine Herrschaft und eine gute Regierungszeit braucht.
Im ägyptischen Tempel existierte stets eine mythologische Welt hinter der
realen Welt: Auf der einen Seite fand in dem architektonisch festgelegten Rahmen
der reale Tempelkult statt, auf der anderen Seite repräsentiert der Tempel den Ort,
wo sich täglich die Schöpfung wiederholt. Der korrekte Kultablauf musste zum
Erhalt der Weltordnung gewährleistet sein, und es galt, jegliche Bedrohung vom
Heiligtum abzuwehren. Der Schutz des Tempels und der in ihm wohnenden Gott-
heiten ist daher ein allerorts greifbares Thema, wobei Architektur und Dekoration
wiederum aufs Engste aufeinander abgestimmt sind: So erfüllen etwa die löwen-
gestaltigen Wasserspeier den architektonischen Zweck, das Regenwasser vom Dach
abzuleiten und den Tempel vor Zerstörungen zu bewahren. Diese reale Funktion
erfuhr nun auch eine mythologische Ausdeutung: In dem Unwetter und den
Regenstürmen manifestierten sich die Feinde des Gottes, der auf das Tempeldach
niederfallende Regen wurde als feindlicher Angriff auf das Heiligtum, die darin
wohnenden Götter und den ordnungsgemäßen Zustand der Welt betrachtet. Dem-
entsprechend können die Wasserspeier als Gott Horus auftreten, der in seiner
löwengestaltigen Erscheinungsform gegen seinen Feind Seth in Gestalt des Regens
kämpft. Das Ableiten des Regenwassers ist also gleichbedeutend mit dem Vertrei-
ben der Feinde.
 
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