130 | SITZUNGEN
sichtslos gewordene Behandlung abbricht, tut dies seinerseits in dem Wissen, dass
seine medizinische Kunst nicht der Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern
dem Wohl eines konkreten Menschen dient, der seiner ärztlichen Fürsorge auch in
der letalen Phase des Sterbeprozesses bedarf. Er achtet den ihm anvertrauten Patien-
ten in der Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit seines leiblichen Seins, indem er sein
Sterben zu erleichtern sucht, aber dabei die letzte Grenze des Todes respektiert, die
allen Beteiligten — dem Sterbenden, seiner Umgebung, dem staatlichen Gesund-
heitssystem und auch dem Arzt - gezogen sind.
Vor allem utilitaristische Ethiker ziehen aus diesen handlungstheoretischen
Analysen und weiteren Untersuchungen über den ontologischen Status von Unter-
lassungen und die Kausalität negativer Ereignisse den Schluss, dass es zwischen Han-
deln und Unterlassen überhaupt keinen moralisch relevanten Unterschied gibt. So
folgert Birnbacher aus dem Umstand, dass auch Unterlassungen in bestimmter Weise
kausal wirksam sein können, dass es keinen vernünftigen Grund gebe, „dem Unter-
lassenden nicht dieselbe moralische Folgenverantwortung zuzuschreiben wie dem
Handelnden“2. Das ist unter der Prämisse, dass allein die Folgen für die moralische
Beurteilung von Handlungen bedeutsam sind, nur konsequent. Da diese Prämisse in
der Analyse der Kausalwirkung von Unterlassungen aber bereits vorausgesetzt ist,
verfällt die subtile Analyse einem Zirkelschluss. Die Argumentation, der Unterlas-
sende sei, da er einen Geschehensablauf durch sein Eingreifen unterbrechen könnte
und daher an der gesamten Ereigniskette kausal beteiligt ist, für das Eintreten aller
dieser Ereignisse auch moralisch verantwortlich, wäre nur dann stringent, wenn der
Unterlassende in den Geschehensablauf mit moralisch zulässigen Mitteln eingreifen
könnte. Innerhalb einer utilitaristischen Ethik kann jedoch nach der Zulässigkeit der
Mittel nicht eigens gefragt werden; das Beurteilungskriterium der Mittelwahl wird
einfach zugunsten der Folgenbewertung übersprungen. Es wird ohne weitere Prü-
fung unterstellt, dass der Unterlassende, wenn es ihm physisch möglich wäre, eine
bestimmte Ereigniskette zu unterbrechen, er dazu auch moralisch in der Lage sein
müsste. Fragt man aber nicht mehr nach der moralischen Zulässigkeit der Mittel,
sondern nur noch nach den beabsichtigten Folgen, so ergibt sich mit scheinbarer
Folgerichtigkeit, dass, wenn diese identisch sind, auch Handeln und Nicht-Handeln
in moralischer Hinsicht gleichbedeutend sein müssen. Dies ist aber tatsächlich nur
dann der Fall, wenn das Eingreifen dem Unterlassenden auch moralisch möglich
wäre; für die Folgen gebotener Unterlassungen, die sich aus dem Fehlen einer mora-
lischen Handlungsbefugnis ergeben, trägt dagegen niemand Verantwortung.3
Die Unangemessenheit einer Analyse, in der die Tötung auf Verlangen und das
Sterbenlassen als gleichermaßen absichtliches Bewirken des Todes interpretiert wird,
zeigt sich im Vergleich mit einer anderen Konstellation, die moralisch und rechtlich
eindeutig als Tötungsdelikt aufzufassen ist. Eine Mutter, die ihr Kind verhungern
lässt, ist für seinen Tod verantwortlich; ihr Tun wird deshalb als unterlassene Hilfe-
2 D. Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995, 99.
3 Vgl. R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 21983, 65f.
sichtslos gewordene Behandlung abbricht, tut dies seinerseits in dem Wissen, dass
seine medizinische Kunst nicht der Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern
dem Wohl eines konkreten Menschen dient, der seiner ärztlichen Fürsorge auch in
der letalen Phase des Sterbeprozesses bedarf. Er achtet den ihm anvertrauten Patien-
ten in der Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit seines leiblichen Seins, indem er sein
Sterben zu erleichtern sucht, aber dabei die letzte Grenze des Todes respektiert, die
allen Beteiligten — dem Sterbenden, seiner Umgebung, dem staatlichen Gesund-
heitssystem und auch dem Arzt - gezogen sind.
Vor allem utilitaristische Ethiker ziehen aus diesen handlungstheoretischen
Analysen und weiteren Untersuchungen über den ontologischen Status von Unter-
lassungen und die Kausalität negativer Ereignisse den Schluss, dass es zwischen Han-
deln und Unterlassen überhaupt keinen moralisch relevanten Unterschied gibt. So
folgert Birnbacher aus dem Umstand, dass auch Unterlassungen in bestimmter Weise
kausal wirksam sein können, dass es keinen vernünftigen Grund gebe, „dem Unter-
lassenden nicht dieselbe moralische Folgenverantwortung zuzuschreiben wie dem
Handelnden“2. Das ist unter der Prämisse, dass allein die Folgen für die moralische
Beurteilung von Handlungen bedeutsam sind, nur konsequent. Da diese Prämisse in
der Analyse der Kausalwirkung von Unterlassungen aber bereits vorausgesetzt ist,
verfällt die subtile Analyse einem Zirkelschluss. Die Argumentation, der Unterlas-
sende sei, da er einen Geschehensablauf durch sein Eingreifen unterbrechen könnte
und daher an der gesamten Ereigniskette kausal beteiligt ist, für das Eintreten aller
dieser Ereignisse auch moralisch verantwortlich, wäre nur dann stringent, wenn der
Unterlassende in den Geschehensablauf mit moralisch zulässigen Mitteln eingreifen
könnte. Innerhalb einer utilitaristischen Ethik kann jedoch nach der Zulässigkeit der
Mittel nicht eigens gefragt werden; das Beurteilungskriterium der Mittelwahl wird
einfach zugunsten der Folgenbewertung übersprungen. Es wird ohne weitere Prü-
fung unterstellt, dass der Unterlassende, wenn es ihm physisch möglich wäre, eine
bestimmte Ereigniskette zu unterbrechen, er dazu auch moralisch in der Lage sein
müsste. Fragt man aber nicht mehr nach der moralischen Zulässigkeit der Mittel,
sondern nur noch nach den beabsichtigten Folgen, so ergibt sich mit scheinbarer
Folgerichtigkeit, dass, wenn diese identisch sind, auch Handeln und Nicht-Handeln
in moralischer Hinsicht gleichbedeutend sein müssen. Dies ist aber tatsächlich nur
dann der Fall, wenn das Eingreifen dem Unterlassenden auch moralisch möglich
wäre; für die Folgen gebotener Unterlassungen, die sich aus dem Fehlen einer mora-
lischen Handlungsbefugnis ergeben, trägt dagegen niemand Verantwortung.3
Die Unangemessenheit einer Analyse, in der die Tötung auf Verlangen und das
Sterbenlassen als gleichermaßen absichtliches Bewirken des Todes interpretiert wird,
zeigt sich im Vergleich mit einer anderen Konstellation, die moralisch und rechtlich
eindeutig als Tötungsdelikt aufzufassen ist. Eine Mutter, die ihr Kind verhungern
lässt, ist für seinen Tod verantwortlich; ihr Tun wird deshalb als unterlassene Hilfe-
2 D. Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995, 99.
3 Vgl. R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 21983, 65f.