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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI Kapitel:
D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe und Mitglieder
DOI Kapitel:
I. Antrittsreden
DOI Artikel:
Leonhard, Jörn: Jörn Leonhard: Antrittsrede vom 24. Oktober 2015
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0324
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Antrittsrede von Jörn Leonhard

listen und zumaljuristen. Das hatte Folgen, insofern ein geisteswissenschaftliches
Studium gut begründet werden musste, weniger gegenüber meinen sehr liberalen
Eltern als gegenüber der weiteren Familie. Tatsächlich bewies in den Augen man-
cher Cousins erst meine Freiburger Antrittsvorlesung, dass man mit neuzeitlicher
Geschichte tatsächlich in ein staatlich besoldetes Amt und ein entsprechendes
Dienstverhältnis treten könne.
Geht man die familiären Generationen zurück, stößt man immerhin auch
auf andere Spuren: etwa auf Terrazzo-Fließenleger, die im 17. Jahrhundert nach
Deutschland kamen, auf Hunsrücker Bergleute und einen in der Heiratsurkunde
der 1820er Jahre als „Oberaufseher“ bezeichneten Angehörigen einer Kettenstraf-
anstalt im Lüneburgischen.
Aufgewachsen bin ich seit meinem zweiten Lebensjahr in Darmstadt, wo ich
1986 auch Abitur machte. Zur Erfahrung meiner westdeutschen Alterskohorte
gehörten weder Krieg noch Diktatur, aber ganz sicher der späte Kalte Krieg und
die neu politisierenden Auseinandersetzungen der 1980er Jahre, von der Nach-
rüstungsdebatte bis zu den Konflikten um den Ausbau der Startbahn West des
Frankfurter Flughafens. Beides erinnere ich sehr genau, weil es die gymnasiale
Oberstufe auch an einem für hessische Verhältnisse sehr konservativen Gymna-
sium mit einem Latein-Leistungskurs stark prägte, so wie die teilweise heftigen
Kommentare zum zwölf-monatigen Grundwehrdienst - eine heute kaum mehr
zu vermittelnde Erfahrung staatlicher Bestimmung von Freiheitsgrenzen, deren
Sinnhaftigkeit für mich in dem Maße abnahm, je schlechter ich Panzerfahrzeuge
durch das oberhessische Bergland bugsierte.
Aus meiner Schulzeit sind mir starke, auch prägende Lehrer in Erinnerung
geblieben, zum Teil noch mit eigenen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg
und der doppelten Diktatur des Nationalsozialismus und der DDR. Unsicher,
ob nicht doch die Juristerei das Bessere wäre, gab eine sehr wichtige Person, die
Leiterin meines Geschichts-Leistungskurses, Dr. Ingeborg Hojer, den Ausschlag
- nämlich im Zweifel der Neigung, für die man auch unpragmatisch viel Energie
aufwenden würde, und nicht zu schnell dem Argument des Brotberufs zu folgen.
Ihr verdanke ich viel, und bin ihr über viele Jahre eng verbunden geblieben.
Vom Wintersemester 1987/88 an studierte ich Geschichte, Politische Wis-
senschaften und Germanistik in Heidelberg, unterbrochen 1991/92 von einem
Masterstudium von „Modern History“ an der Universität Oxford. Ohne die stu-
dentische Freiheit im Nachhinein verklären zu wollen: Angesichts der gegenwär-
tigen Verstrickungen und Absurditäten von ECTS-Punkten, konkurrierenden
Studien- und Prüfungsordnungen und einer Tendenz zur Ökonomisierung der
akademischen Lehre („was keinen ECTS-Punkt bringt, ist nichts wert“), erlaubte
mir das alte Magisterstudium viel Freiheit und ein gänzlich unökonomisches Fla-
nieren zwischen den Fächern und über sie hinaus. Das genoss ich in vollen Zü-
gen, mit Blicken in die Soziologie und Philosophie, die Rechtsgeschichte und die

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