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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

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A. Das akademische Jahr 2016
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Schwinn, Thomas: Die Vielfalt der Moderne: Aspekte und Probleme einer Forschungsperspektive
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https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0051
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Thomas Schwinn

Thomas Schwinn
„Die Vielfalt der Moderne.,
Aspekte und Probleme einer Forschungsperspektive"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 22. Juli 2016
In den zurückliegenden Jahrzehnten hat ein sozialwissenschaftliches Hinterfra-
gen und Neubestimmen unseres Modernitätsverständnisses eingesetzt. Mit dem
Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften Ende der 1980er Jahre zer-
fällt die Einteilung der Länder in Erste, Zweite und Dritte Welt. Sie taugen als
Kompaktbegriffe nicht mehr. Aus dem Feld der unterentwickelten Gesellschaften
hat sich eine Reihe von Ländern verabschiedet. Deren Entwicklung, wie die der
postsozialistischen Gesellschaften, lassen sich kaum mit den gängigen moderni-
sierungstheoretischen Blaupausen verständlich machen. Auch die in den 1990er
Jahren einsetzende Debatte um die Säkularisierungsthese ist für das Thema re-
levant. Die paradigmatische Rolle Europas, an dem der Bedeutungsverlust von
Religion abgelesen wurde, wird bezweifelt. Religionen bleiben vital und prägen
die Moderne mit. Nicht nur für die Religion, sondern auch in der vergleichenden
Kapitalismus-, politischen Regime-, Wohlfahrtsstaats-, Bildungs-, Rechts-, Famili-
enforschung stößt man auf die Einsicht, dass sich zwar gewisse transnationale Ins-
titutionenzüge erkennen lassen, zugleich aber verschiedene Typen weiterexistieren
bzw. neue sich bilden.
Die Moderne präsentiert sich heute allen Gesellschaften als gemeinsamer
Kontext, ohne dass dies zu einer Konvergenz der Ordnungsmuster führt. Die Welt
wird einheitlicher und uneinheitlicher zugleich. Vereinfachende Konvergenz- und
Divergenzannahmen sind zu vermeiden. Der Ansatz, der unter dem Titel Die Viel-
falt der Moderne oder Multiple Modernities läuft, bietet dafür eine interessante For-
schungsperspektive. Folgende Aspekte und Probleme stellen sich dieser neuen
Theorie:
1. Das Interdependenztheorem unterstellte eine Systematik von Modernität, von
der die meisten Theorien der Soziologie ausgingen. Alle sozialen Prozesse und
Institutionen müssen sich parallel entwickeln, sind aufeinander angewiesen und
können nur zusammen Modernität herbeiführen. In den neueren Arbeiten wer-
den dagegen die variablen Kombinationsmöglichkeiten zwischen den institutio-
nellen Elementen betont. So wird etwa die früher unterstellte feste Sequenz bzw.
Kopplung von kapitalistischer und demokratischer Entwicklung kritisch hinter-
fragt. Die Moderne eröffnet einen Spielraum, der nicht durch ein Modell oder
einen Typus eingefangen werden kann.
2. Die Dichotomie von Tradition und Moderne war für die Modernisierungsthe-
orie konstitutiv. Mit ihr wurde das historische Geschehen in modernitätstauglich
und modernitätshinderlich, i. e. traditional dichotomisiert. Diese Dichotomie löst

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