II. Wissenschaftliche Vorträge
Es gibt Wissenschaften, die sich nicht beständig um den sinnfälligen Nach-
weis ihres gesellschaftlichen Nutzens bemühen müssen, sondern bei denen es
genügt, wenn davon die Rede ist, einer aus ihren Reihen sei nahe daran, ein Pro-
blem zu lösen, an dem andere bislang gescheitert seien. Was für ein Problem das
ist, spielt keine Rolle, und was an ihm das Problematische ist, das geklärt werden
muss, würde auch kaum einer von denen verstehen, denen es erklärt wird. Das ist
der Vorteil der Natuiwissenschaften. Ihnen wird ein Nutzen zugeschrieben, den
sie nicht ständig und immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen müssen. Die
Politikwissenschaft besitzt diesen Vorzug nicht, und sie wird auch nicht in diese Si-
tuation kommen, wenn sie sich auf dem Weg der Szientifizierung noch weiter spe-
zialisiert und differenziert. Wahrscheinlich ist das eine der Trennlinien zwischen
dem, was im Angloamerikanischen „Sciences“ und „humanities“ heißt, ohne dass
dies in der Benennung unseres Fachs - political Science - semantisch so abgebildet
wird. Die Politikwissenschaft kann sich mit einem Teil ihrer Arbeitsgebiete sehr
wohl in den Bereich der „Sciences“ begeben, aber sie muss mit einem anderen im
Feld der „humanities“ bleiben, und entgegen einem unter Fachkolleginnen und
-kollegen verbreiteten Gestus sind die im Feld der „Sciences“ Tätigen immer die
legitimatorischen Kostgänger der in den „humanities“ Verbliebenen. Ich will diese
These abschließend noch einmal an dem Problemfeld des Lernens aus histori-
schen Themen erläutern.
Normaleiweise haben sozio-politische, sozio-ökonomische Ordnungen eine
gewisse Stabilität, die dafür sorgt, dass aus dem - in der Begrifflichkeit Reinhart
Kosellecks22 - gegenwärtigen Erfahrungsraum Schlüsse für die Konstitution eines
Eiwartungshorizonts gezogen werden können, und wenn man dieses alltägliche
Verhalten szientifiziert, nimmt man große Datenmengen und extrapoliert sie in die
Zukunft, um verlässliche Aussagen über den zunächst unzuverlässig imaginierten
Eiwartungshorizont machen zu können. Das Problem ist, dass die Zuverlässigkeit
dieses Verfahrens an der Stabilität der bestehenden oder angenommenen Ordnung
hängt. Wenn diese fragil wird oder zerbricht, ist es auch um die Zuverlässigkeit der
Extrapolationen geschehen. Sie sind im buchstäblichen Sinn wertlos geworden.
Wir haben derlei zuletzt bei den Demoskopen erlebt, die sich mit ihren Vorhersa-
gen zum Brexit-Votum in Großbritannien und zur US-amerikanischen Präsident-
schaft gründlich blamiert haben. Heißt: eine szientifizierte Politikwissenschaft ist
auf die Stabilität von Rahmenbedingungen angewiesen, die sie selber nicht kont-
rollieren, geschweige denn garantieren kann. Das ist mehr als eine Unbehaglich-
keit für das Fach: Es ist ein strategisches Problem, und der Umgang mit ihm legt
nahe, dass ein Teil des Fachs im Sinne der angesprochenen Begrifflichkeit in den
22 Reinhart Koselleck, „»Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« - zwei historische Kate-
gorien“; in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main
1979, S. 349-375.
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Es gibt Wissenschaften, die sich nicht beständig um den sinnfälligen Nach-
weis ihres gesellschaftlichen Nutzens bemühen müssen, sondern bei denen es
genügt, wenn davon die Rede ist, einer aus ihren Reihen sei nahe daran, ein Pro-
blem zu lösen, an dem andere bislang gescheitert seien. Was für ein Problem das
ist, spielt keine Rolle, und was an ihm das Problematische ist, das geklärt werden
muss, würde auch kaum einer von denen verstehen, denen es erklärt wird. Das ist
der Vorteil der Natuiwissenschaften. Ihnen wird ein Nutzen zugeschrieben, den
sie nicht ständig und immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen müssen. Die
Politikwissenschaft besitzt diesen Vorzug nicht, und sie wird auch nicht in diese Si-
tuation kommen, wenn sie sich auf dem Weg der Szientifizierung noch weiter spe-
zialisiert und differenziert. Wahrscheinlich ist das eine der Trennlinien zwischen
dem, was im Angloamerikanischen „Sciences“ und „humanities“ heißt, ohne dass
dies in der Benennung unseres Fachs - political Science - semantisch so abgebildet
wird. Die Politikwissenschaft kann sich mit einem Teil ihrer Arbeitsgebiete sehr
wohl in den Bereich der „Sciences“ begeben, aber sie muss mit einem anderen im
Feld der „humanities“ bleiben, und entgegen einem unter Fachkolleginnen und
-kollegen verbreiteten Gestus sind die im Feld der „Sciences“ Tätigen immer die
legitimatorischen Kostgänger der in den „humanities“ Verbliebenen. Ich will diese
These abschließend noch einmal an dem Problemfeld des Lernens aus histori-
schen Themen erläutern.
Normaleiweise haben sozio-politische, sozio-ökonomische Ordnungen eine
gewisse Stabilität, die dafür sorgt, dass aus dem - in der Begrifflichkeit Reinhart
Kosellecks22 - gegenwärtigen Erfahrungsraum Schlüsse für die Konstitution eines
Eiwartungshorizonts gezogen werden können, und wenn man dieses alltägliche
Verhalten szientifiziert, nimmt man große Datenmengen und extrapoliert sie in die
Zukunft, um verlässliche Aussagen über den zunächst unzuverlässig imaginierten
Eiwartungshorizont machen zu können. Das Problem ist, dass die Zuverlässigkeit
dieses Verfahrens an der Stabilität der bestehenden oder angenommenen Ordnung
hängt. Wenn diese fragil wird oder zerbricht, ist es auch um die Zuverlässigkeit der
Extrapolationen geschehen. Sie sind im buchstäblichen Sinn wertlos geworden.
Wir haben derlei zuletzt bei den Demoskopen erlebt, die sich mit ihren Vorhersa-
gen zum Brexit-Votum in Großbritannien und zur US-amerikanischen Präsident-
schaft gründlich blamiert haben. Heißt: eine szientifizierte Politikwissenschaft ist
auf die Stabilität von Rahmenbedingungen angewiesen, die sie selber nicht kont-
rollieren, geschweige denn garantieren kann. Das ist mehr als eine Unbehaglich-
keit für das Fach: Es ist ein strategisches Problem, und der Umgang mit ihm legt
nahe, dass ein Teil des Fachs im Sinne der angesprochenen Begrifflichkeit in den
22 Reinhart Koselleck, „»Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« - zwei historische Kate-
gorien“; in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main
1979, S. 349-375.
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