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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

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A. Das akademische Jahr 2019
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I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
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Höffe, Otfried: Karl Jaspers, ein europäischer Denker: Festvortrag
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0030
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I. Jahresfeier am 18. Mai 2019

sophische Fachpublikation ist sie aber immer noch nicht anzusehen: Die geistige
Situation derZeit. Der Grundton dieser Abhandlung ist - ähnlich dem dreibändigen
Hauptwerk Philosophie 1932, eine knappe Zusammenfassung in der Kleinen Schule
des philosophischen Denkens (1965, Abschnitt 1.4) - gegenwartskritisch: „Die durch
die Naturwissenschaften entstandene geistige Situation“ der damaligen Zeit sieht
Jaspers durch drei Merkmale ausgezeichnet: durch Zerrissenheit der Welt, durch
ihre Entzauberung und durch einen Wissenschaftsaberglauben. Hier erweist sich
Jaspers insofern erneut als europäischer Denker, als der Grundton dem damaligen
Zeitgeist entspricht:
Der spanische Kulturphilosoph Jose Ortega y Gasset veröffentlicht einige Jah-
re vor Jaspers eine Reihe kulturkritischer Essays, die im Jahr 1930 als La reheliön
de las masas, als Der Aufstand der Massen (1931), zusammengefasst werden. Orte-
ga setzt dort dem angeblichen Produkt der technischen und liberalen Zivilisation
des 19. Jahrhunderts, der Vulgarität und Selbstgefälligkeit, dem Schmarotzertum
und der Unlenksamkeit, den geschichtlichen Auftrag entgegen, eine Herrschaft
als geistige Macht auszuüben. Martin Heidegger wiederum erklärt in Sein und Zeit
(113 ff), das ,„Subjekt‘ der Alltäglichkeit“, das „Man“, sei ein „Niemand“, dem
alles Dasein sich je schon ausgeliefert hat“.
Obwohl Jaspers sich der vorherrschenden Zeitdiagnose anschließt, setzt er
doch einen eigenen Akzent. Der im Massendasein drohenden Auflösung des Ein-
zelnen stellt er ein von Soren Kierkegaard inspiriertes Philosophieren entgegen,
das er im Rahmen einer „Existenzphilosophie“, des näheren „Existenzerhellung“
nennt. Mit ihr, erklärt er selbstbewusst in einem späteren Brief (September 1937),
beansprucht er nicht, „eine besondere neue Philosophie, sondern Philosophie
schlechthin in gegenwärtiger Gestalt“ zu entwickeln (Ausgewählte Verlags- und Über-
setzerkorrespondenzen , 129).
In der Geistigen Situation der Zeit fordert nun Jaspers den Menschen auf, sich
aus der scheinbar unentrinnbaren Daseinsordnung, aus ihrer Rationalisierung und
Mechanisierung, sowie, hier gegen den Wohlfahrtstaat kritisch, einem „Riesen-
apparat der Daseinsfürsorge“ herauszureißen, um selbst und persönlich das Leben
denkend und handelnd mit wesentlichem Gehalt zu füllen. Das daraus hervorge-
hendc, als „eigentlich“ geadelte Leben, ein „Selbstsein in Freiheit“, beruht nicht,
so die negative Seite, auf zwingendem Wissen. Es bedarf vielmehr, so die positive
Charakterisierung, des teilnehmenden Vollzugs.
In den Fußstapfen von Kant, zuvor Rousseau, später Max Weber vereint
Jaspers hier beides: die schon in seiner Psychopathologie sichtbare Schätzung von
Wissen und Wissenschaft, mit einem Veto gegen einen „Imperialismus der Wis-
senschaft“. Mit der Einsicht in deren grundlegende Grenzen schließt sich Jaspers
an den erwähnten Gedanken aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik an, wonach es
letztlich nicht auf Erkennen, sondern Handeln ankomme. In diesem Sinn geht es
Jaspers nicht um das ,Wesen des Menschen“ oder ein „wahres Menschsein“. Seine

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