Festvortrag von Otfried Höffe
beim genetischen Verstehen, versetzt man sich in die Evidenz hinein, die mit dem
Seelischen verbunden ist, hier nimmt man hingegen Erklärungen vor. In beiden
Fällen, so Jaspers, handelt es sich um wahrhaft wissenschaftliche Methoden. Mit
dieser aristotelisch-jasperschen Haltung epistemischer Toleranz könnte man heute
gegen Richtungen in der Analytischen Philosophie Einspruch erheben, die sich
unter anglophoner Dominanz mit einer Toleranz gegen Dialektik, Hermeneutik,
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie schwertun.
II. Ein persönlicher Denkweg
Werfen wir erneut einen Kurzblick auf Jaspers’ weitere Entwicklung. Die großen
Denker der Frühen Neuzeit, von Hobbes und Descartes über Locke, Spinoza und
Pascal bis Leibniz und Hume, sind allesamt keine akademischen Lehrer. Unter den
großen Philosophen von globalem Rang ist Kant der erste, der eine Universitäts-
karriere einschlägt. Eigenwillig wie Jaspers ist, geht auch er einen Sonderweg. Des-
sen Basis bildet zwar ein Philosophie-Ordinariat, zunächst in Heidelberg, nach
dem Krieg in Basel. Mit seiner Dissertation wird er aber zum Dr. med. promoviert,
und die Habilitation erfolgt zwar für das Fach Philosophie, aber nicht mit einer
zunftgerechten Monographie, sondern mit der genannten Allgemeinen Psychopa-
thologie, auf die eine Psychologie (!) der Weltanschauungen (1919), vom Titel her also
erneut keine wahrhafte philosophische Studie, folgt.
Im „Vorwort zur vierten Auflage“ (1954, 7) begründet Jaspers den Titelaus-
druck „Psychologie“ mit dem Hinweis auf seine „damalige akademische Position“,
sich nicht für Philosophie zu habilitieren. Diesen Umstand sah er freilich nicht als
eine bloße Äußerlichkeit an. Gestützt auf Aristoteles’ Satz „die Seele ist gleichsam
alles“ (Über die Seele, III 8, 431 b 1), begann er, wie er schreibt, „mit gutem Wissen
unter dem Namen der Psychologie mich mit allem zu beschäftigen, was man wis-
sen kann“ (ebd., 7 f).
Mit einer weiteren Schrift, Die Idee der Universität (1923, vgL Immel 2016),
weist sich Jaspers in einer fünften Hinsicht als ein europäischer Denker aus. Denn
wie er gegen Ende der Schrift mit gewissem Stolz erklärt, ist die Idee der Universität
„abendländisch, von den Griechen her und Europäern eigentümlich“. Die neuer-
dings verbreitete Idiophobie, nämlich Angst, positive europäische Besonderheiten
zu sehr zu betonen, hält er also für unangebracht. In der Tat ist die Universität
bekanntlich eine seit dem Hochmittelalter sich ausbreitende typisch europäische
Institution. Auch für deren Kern, die Einheit von Lehre und Forschung, gibt es
unausgesprochen ein europäisches Vorbild, nämlich das antike Institute for Advan-
ced Studies, Platons Akademie.
Etliche Jahre nach der Idee der Universität erscheint als Göschen Bändchen
Nr. 1.000 eine Schrift, die mit ihrem Reichtum an Gesichtspunkten, Kenntnissen
und Argumenten zu Recht binnen kurzem zum Bestseller avanciert. Als philo-
29
beim genetischen Verstehen, versetzt man sich in die Evidenz hinein, die mit dem
Seelischen verbunden ist, hier nimmt man hingegen Erklärungen vor. In beiden
Fällen, so Jaspers, handelt es sich um wahrhaft wissenschaftliche Methoden. Mit
dieser aristotelisch-jasperschen Haltung epistemischer Toleranz könnte man heute
gegen Richtungen in der Analytischen Philosophie Einspruch erheben, die sich
unter anglophoner Dominanz mit einer Toleranz gegen Dialektik, Hermeneutik,
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie schwertun.
II. Ein persönlicher Denkweg
Werfen wir erneut einen Kurzblick auf Jaspers’ weitere Entwicklung. Die großen
Denker der Frühen Neuzeit, von Hobbes und Descartes über Locke, Spinoza und
Pascal bis Leibniz und Hume, sind allesamt keine akademischen Lehrer. Unter den
großen Philosophen von globalem Rang ist Kant der erste, der eine Universitäts-
karriere einschlägt. Eigenwillig wie Jaspers ist, geht auch er einen Sonderweg. Des-
sen Basis bildet zwar ein Philosophie-Ordinariat, zunächst in Heidelberg, nach
dem Krieg in Basel. Mit seiner Dissertation wird er aber zum Dr. med. promoviert,
und die Habilitation erfolgt zwar für das Fach Philosophie, aber nicht mit einer
zunftgerechten Monographie, sondern mit der genannten Allgemeinen Psychopa-
thologie, auf die eine Psychologie (!) der Weltanschauungen (1919), vom Titel her also
erneut keine wahrhafte philosophische Studie, folgt.
Im „Vorwort zur vierten Auflage“ (1954, 7) begründet Jaspers den Titelaus-
druck „Psychologie“ mit dem Hinweis auf seine „damalige akademische Position“,
sich nicht für Philosophie zu habilitieren. Diesen Umstand sah er freilich nicht als
eine bloße Äußerlichkeit an. Gestützt auf Aristoteles’ Satz „die Seele ist gleichsam
alles“ (Über die Seele, III 8, 431 b 1), begann er, wie er schreibt, „mit gutem Wissen
unter dem Namen der Psychologie mich mit allem zu beschäftigen, was man wis-
sen kann“ (ebd., 7 f).
Mit einer weiteren Schrift, Die Idee der Universität (1923, vgL Immel 2016),
weist sich Jaspers in einer fünften Hinsicht als ein europäischer Denker aus. Denn
wie er gegen Ende der Schrift mit gewissem Stolz erklärt, ist die Idee der Universität
„abendländisch, von den Griechen her und Europäern eigentümlich“. Die neuer-
dings verbreitete Idiophobie, nämlich Angst, positive europäische Besonderheiten
zu sehr zu betonen, hält er also für unangebracht. In der Tat ist die Universität
bekanntlich eine seit dem Hochmittelalter sich ausbreitende typisch europäische
Institution. Auch für deren Kern, die Einheit von Lehre und Forschung, gibt es
unausgesprochen ein europäisches Vorbild, nämlich das antike Institute for Advan-
ced Studies, Platons Akademie.
Etliche Jahre nach der Idee der Universität erscheint als Göschen Bändchen
Nr. 1.000 eine Schrift, die mit ihrem Reichtum an Gesichtspunkten, Kenntnissen
und Argumenten zu Recht binnen kurzem zum Bestseller avanciert. Als philo-
29