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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

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A. Das akademische Jahr 2019
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Kielmansegg, Peter: Die Verfassung von Weimar: Versuch einer Neueinschätzung
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0067
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Peter Graf Kielmansegg

Peter Graf Kielmansegg
„Die Verfassung von Weimar. Versuch einer Neueinschätzung"
Mitgliedervortrag für den Förderverein am 12. Juni 2019
Die Weimarer Verfassung wird erinnert als die Verfassung einer gescheiterten De-
mokratie und damit selbst als gescheitert. Die weithin geteilte Meinung, dass die
Verfassung mitverantwortlich für das vorzeitige Ende der ersten deutschen Demo-
kratie sei, ist im Grundgesetz gewissermaßen festgeschrieben. Denn das Grund-
gesetz ist vom Parlamentarischen Rat in wesentlichen Hinsichten als Gegenent-
wurf zur Weimarer Verfassung konzipiert und dann auch so rezipiert worden. Der
100. Geburtstag der Weimarer Verfassung ist eine gute Gelegenheit, die zur Or-
thodoxie geworden These von der misslungenen Verfassung auf den Prüfstand zu
stellen.
Das geschieht hier in zwei Schritten. Zunächst gilt es, einen ganz unbefange-
nen Blick auf die Verfassung zu werfen, ohne schon das Ende der Republik mitzu-
denken. Welches sind ihre konstitutiven Merkmale? Wie ist sie in eine Typologie
demokratischer Verfassungen einzuordnen? Dann aber ist die alte Frage neu zu
stellen, ob die nun genauer beschriebene Verfassung tatsächlich zum Untergang
der Republik beigetragen habe. Und wenn ja, wie.
Republikanische Vorbilder gab es, als man im Winter 1918/19 an die Verfas-
sungsarbeit ging, nur drei: die USA mit einer damals schon 130 Jahre alten bun-
desstaatlichen Verfassung, die eine auf Volkswahl gegründete präsidiale Exekutive
und eine Zwei-Kammer-Legislative in strikter Gewaltenteilung gegeneinander-
stellte; die Schweiz, deren Verfassung etwa 70 Jahre alt war, auch ein Bundesstaat
mit zwei Kammern, aber einer von beiden Kammern auf Zeit fest gewählten Kol-
legialregierung; und die aus der Niederlage von 1871 hervorgegangene 3. Franzö-
sische Republik, die Parlament und Regierung gewaltenfusionierend verklammert
hatte, also parlamentarisch verfasst war.
Die Weimarer Nationalversammlung hat sich an keinem dieser drei Modelle
orientiert, sondern bewusst etwas Neues, Eigenes geschaffen. Die Demokratie-
geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg hat gezeigt, dass das Weimarer Modell
durchaus Zukunftspotential hatte. Es verknüpfte das parlamentarische System -
die Regierung bedarf des Vertrauens des Parlamentes - mit einer starken Präsi-
dentschaft: der Reichspräsident wurde vom Volk gewählt und war mit Rechten
ausgestattet, die ihn tendenziell zu einer Schlüsselfigur des Verfassungslebens
machten. Das Prinzip, auf dem die Weimarer Institutionenordnung aufruhte,
war das der Volkssouveränität in einer Konsequenz, hinter der sogar die Schwei-
zer Bundesverfassung zurückblieb. Die Institutionenordnung selbst war in star-
kem Maße von Gleichgewichtsüberlegungen bestimmt - zwischen Reichstag und

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