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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2019
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Kielmansegg, Peter: Die Verfassung von Weimar: Versuch einer Neueinschätzung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0068
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II. Wissenschaftliche Vorträge

Reichspräsident im besonderem wollte die Verfassung einen Gleichgewichtszu-
stand schaffen, den das Volk als Schiedsrichter überwachen sollte.
Dass man sich nicht wie das Grundgesetz konsequent für das parlamentarische
System entschied, hatte sicher mit dem schlechten Bild zu tun, das die 3. Franzö-
sische Republik mit ihren Instabilitäten abgab. Aber auch mit der besonderen kon-
stitutionellen Tradition Deutschlands, die im Parlament die Partikularinteressen
repräsentiert sah, denen eine institutionelle Repräsentanz des Gemeinwohls ge-
genübergestellt werden musste. Eine starke Präsidentschaft schien sich im Übrigen
auch aus sehr praktischen Gründen zu empfehlen. Das Jahr 1919 war bekanntlich
ein Krisenjahr, in dem die gerade ins Leben tretende Republik vielfältigen Gefah-
ren ausgesetzt war.
Dies alles fand im ersten Teil der Verfassung seinen Niederschlag. Im zwei-
ten, 67 Artikel umfassenden Teil wurde der Republik ein Grundrechtskatalog
verbunden mit einem weit ausgreifenden gesellschaftspolitischen Programm auf
ihren Weg mitgegeben. Dieser zweite „Grundrechte und Grundpflichten der
Deutschen“ überschriebene Teil stellt die zweite wesentliche Neuerung dar, die
die Weimarer Verfassung in die Verfassungsgeschichte der modernen Demokratie
einbrachte. Dass er wegen der fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutungs-
los geblieben sei, ist ein - sehr bundesrepublikanisches - Vorurteil, dass näherer
Nachprüfung nicht standhält.
Im Fokus der Kritik an der Weimarer Verfassung standen immer einerseits die
Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten in Art. 48 und andererseits die dop-
pelte Abhängigkeit der Regierung vom Reichspräsidenten und vom Reichstag. Mit
diesen Regelungen habe die Verfassung das Präsidialregime der Jahre nach 1930
ermöglicht, das schließlich zur Kanzlerschaft Hitlers geführt habe. Tatsächlich
wurde das Präsidialregime nur möglich, weil die Parteien im Reichstag sich der
Aufgabe, durch Koalitionsbildung stabile parlamentarische Mehrheiten zu schaf-
fen, entzogen. Die Fragmentierung und die Polarisierung des Parteiensystems wa-
ren es, nicht die Verfassung an sich, die den Reichspräsidenten von 1930 an die
Rolle spielen ließen, die er tatsächlich gespielt hat. Ein anderes Selbstverständnis,
andere Strategien der demokratischen Parteien hätten ein parlamentarisches Re-
gieren jedenfalls bis 1932 durchaus möglich gemacht. Die Verfassung stand dem
nicht entgegen.
Man wird ihr allenfalls vorwerfen können, sie habe den Parteien das Aus-
weichen vor der Verantwortung dadurch erleichtert, dass sie für den Notfall den
alternativen Modus des präsidialen Regierens bereithielt. Auch kann man eine
Schwäche darin sehen, dass die Verfassung ihrem Selbstverständnis nach - oder
richtiger: der vorherrschenden Meinung ihrer Interpreten nach - die Selbstauf-
hebung der Demokratie durch demokratiefeindliche Mehrheiten, wie sie in den
Reichstagswahlen des Jahres 1932 wirklich zustande kamen, zuließ.

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