II. Wissenschaftliche Vorträge
Cornelia Ruhe
„Der Krieg im Frieden. Zu einem zentralen Thema der
zeitgenössischen französischen Literatur1"
Gesamtsitzung am 26. Oktober 2019
Die zeitgenössische Literatur in französischer Sprache interessiert sich nicht nur
für Geschichte im Allgemeinen, sondern in auffallender Weise vor allem für Ge-
waltgeschichte und ihre Konsequenzen für das zivile Leben. Davon zeugt die Pro-
liferation von Texten, die nicht nur die Kriege des 20. Jahrhunderts selbst ins Zen-
trum stellen, sondern auch ihre mentale Vorbereitung und ihre Folgen. Während
der Erste und der Zweite Weltkrieg seit Jahrzehnten ein beliebter Gegenstand der
Literatur und auch des Kinos waren, sind andere Konflikte erst seit gut einem
Jahrzehnt in den Fokus des Interesses geraten - in Frankreich sind das die Kolo-
nialkriege, aber es betrifft auch die Beteiligung Frankreichs an einer ganzen Reihe
zum Teil eher postkolonial zu nennender Konflikte.
Eine Gemeinsamkeit dieser Texte ist, dass ihr Interesse weniger dem Kon-
flikt selbst als vielmehr der jeweiligen Nachkriegszeit gilt, der Schwierigkeit der
Individuen wie auch der Gesellschaft als Ganzes, mit den Traumata umzugehen,
die die Konflikte auf unterschiedlichen Ebenen erzeugt haben. Die untersuchten
Texte2 machen deutlich, wie der Krieg in Friedenszeiten untergründig fortbesteht,
wie das, was man für eine Nachkriegszeit hält, nicht selten bereits den Auftakt zu
einem neuen Konflikt darstellt.
Für ihre Autoren sind Europa, der Krieg und die Literatur so eng miteinander
verbunden, dass sie sich nun der Entzifferung des Kriegs im Frieden verschrieben
haben. Es ist daher kein Zufall, dass es häufig Veteranen sind, die im Zentrum ihrer
Texte stehen. Diese ,Rückkehrer4, die häufig sehr lange brauchen, um tatsächlich
zurückzukehren, tragen den Krieg ins „Hexagone“. Der nötige Raum, um sich mit
ihren Traumata auseinanderzusetzen, wird ihnen allerdings erst mit großer Verspä-
tung zugestanden; die Literatur spielt hierbei eine Vorreiterrolle.
Eine weitere Gemeinsamkeit der literarischen Texte ist ihr gewandeltes
Verständnis von (National-)Geschichte: Die Historiker Nicolas Bancel, Pascal
Blanchard und Sandrine Lemaire diagnostizieren, dass mit der Unabhängigkeit
Algeriens, die den kolonialen Ambitionen Frankreichs ein Ende setzt, die „fracture
coloniale“3, der ,koloniale Bruch4 einsetze. Er trenne die Reflektion über Frank-
1 Siehe hierzu auch Cornelia Ruhe: La memoire des conflits dans la litteraturefrangaise contemporaine.
Leiden/Boston: Brill/Rodopi 2020 (im Druck).
2 Von Maurice Attia, Mathias Enard, Jerome Ferrari, Laurent Gaude, Laurent Mauvignier und
Wajdi Mouawad.
3 Nicolas Bancel/Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire (Hg.): La fracture coloniale. La societefran^aise
au prisme de l’heritage colonial. Paris: La Decouverte 2005, 9—31.
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Cornelia Ruhe
„Der Krieg im Frieden. Zu einem zentralen Thema der
zeitgenössischen französischen Literatur1"
Gesamtsitzung am 26. Oktober 2019
Die zeitgenössische Literatur in französischer Sprache interessiert sich nicht nur
für Geschichte im Allgemeinen, sondern in auffallender Weise vor allem für Ge-
waltgeschichte und ihre Konsequenzen für das zivile Leben. Davon zeugt die Pro-
liferation von Texten, die nicht nur die Kriege des 20. Jahrhunderts selbst ins Zen-
trum stellen, sondern auch ihre mentale Vorbereitung und ihre Folgen. Während
der Erste und der Zweite Weltkrieg seit Jahrzehnten ein beliebter Gegenstand der
Literatur und auch des Kinos waren, sind andere Konflikte erst seit gut einem
Jahrzehnt in den Fokus des Interesses geraten - in Frankreich sind das die Kolo-
nialkriege, aber es betrifft auch die Beteiligung Frankreichs an einer ganzen Reihe
zum Teil eher postkolonial zu nennender Konflikte.
Eine Gemeinsamkeit dieser Texte ist, dass ihr Interesse weniger dem Kon-
flikt selbst als vielmehr der jeweiligen Nachkriegszeit gilt, der Schwierigkeit der
Individuen wie auch der Gesellschaft als Ganzes, mit den Traumata umzugehen,
die die Konflikte auf unterschiedlichen Ebenen erzeugt haben. Die untersuchten
Texte2 machen deutlich, wie der Krieg in Friedenszeiten untergründig fortbesteht,
wie das, was man für eine Nachkriegszeit hält, nicht selten bereits den Auftakt zu
einem neuen Konflikt darstellt.
Für ihre Autoren sind Europa, der Krieg und die Literatur so eng miteinander
verbunden, dass sie sich nun der Entzifferung des Kriegs im Frieden verschrieben
haben. Es ist daher kein Zufall, dass es häufig Veteranen sind, die im Zentrum ihrer
Texte stehen. Diese ,Rückkehrer4, die häufig sehr lange brauchen, um tatsächlich
zurückzukehren, tragen den Krieg ins „Hexagone“. Der nötige Raum, um sich mit
ihren Traumata auseinanderzusetzen, wird ihnen allerdings erst mit großer Verspä-
tung zugestanden; die Literatur spielt hierbei eine Vorreiterrolle.
Eine weitere Gemeinsamkeit der literarischen Texte ist ihr gewandeltes
Verständnis von (National-)Geschichte: Die Historiker Nicolas Bancel, Pascal
Blanchard und Sandrine Lemaire diagnostizieren, dass mit der Unabhängigkeit
Algeriens, die den kolonialen Ambitionen Frankreichs ein Ende setzt, die „fracture
coloniale“3, der ,koloniale Bruch4 einsetze. Er trenne die Reflektion über Frank-
1 Siehe hierzu auch Cornelia Ruhe: La memoire des conflits dans la litteraturefrangaise contemporaine.
Leiden/Boston: Brill/Rodopi 2020 (im Druck).
2 Von Maurice Attia, Mathias Enard, Jerome Ferrari, Laurent Gaude, Laurent Mauvignier und
Wajdi Mouawad.
3 Nicolas Bancel/Pascal Blanchard/Sandrine Lemaire (Hg.): La fracture coloniale. La societefran^aise
au prisme de l’heritage colonial. Paris: La Decouverte 2005, 9—31.
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