Cornelia Ruhe
reich von der über ihr Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien. Diese „fracture
coloniale“ wollen die hier interessierenden Autoren ins Blickfeld rücken, indem
sie zumindest literarisch die Verbindungen wieder herstellen. Ihre Texte befragen
das Erbe der Kolonialzeit auf seine Konsequenzen für die Gegenwart hin und zei-
gen so, dass die französische Geschichte nicht nur über die anderen europäischen
Länder mit der Welt verbunden ist.
Dieses gleichsam zentrifugale Konzept von Geschichte hat Auswirkungen auf
die Konzeption kultureller Erinnerung: Ausgehend von Marianne Hirschs Kon-
zept der „postmemory“ entwickelte Max Silverman für eine solch transkulturelle
und ,verbundene4 Geschichte den Begriff der „palimpsestic memory“4. Er zeigt
auf, dass eine Erinnerung sich vor die andere schieben und sie zumindest zeitwei-
lig überdecken kann. Anhand der Texte zeitgenössischer frankophoner Autoren
lässt sich zeigen, dass die verschiedenen Schichten des Gedächtnisses nicht immer
einfach zugänglich sind, sondern einander überlagern, um schließlich veritable Pa-
limpseste zu bilden.
Die Literatur inszeniert die Struktur der Verdrängung und Entbergung der
Erinnerung auf unterschiedlichen Ebenen: Viele Texte legen eine Architektur der
Gewalt und des Todes unter den modernen und postmodernen Gebäuden der gro-
ßen europäischen Städte frei, die den Protagonisten - und mit ihnen der Leser-
schaft - deutlich macht, wie stark der Drang ist, die Relikte einer uneiwünschten
Vergangenheit zum Verschwinden zu bringen.
In Mathias Enards Kriegsfresko Zone von 2008 konstatiert der Erzähler eine
frenetische Bautätigkeit in den Städten des Mittelmeerraums, die er durchstreift.
Dieser Raum, der für ihn seit Anbeginn der Zeiten von Krieg und Gewalt geprägt
war, trug bislang noch die Narben verschiedener Konflikte in Form der terrains
vagues, der Brachen, deren Leere und Unbestimmtheit häufig von vergangenen
Kriegen zeugte und doch Raum für Imagination und Erinnerung bot. Während
die Brachen als Wunden in der städtischen Landschaft lesbar waren, zeugt ihre
architektonische Füllung im Roman von dem Wunsch ihrer Bewohner, mit den
Traumata der Vergangenheit abzuschließen und an ihrer Stelle Gebäude mit einer
klaren Funktion zu errichten, so dass die Erinnerung, wenn überhaupt, allenfalls
einen peripheren Platz zugewiesen bekommt.
Das Palimpsest als zentrale Figur, an der sich die Komplexität der transkul-
turellen Erinnerung erweist, ist indes nicht allein architektonischer Natur: So
kritisiert etwa der Roman Die französische Kunst des Krieges von Alexis Jenni ein
Geschichtsverständnis, das die Traumata der Vergangenheit durch die Einsetzung
eines offiziellen nationalen Erinnerungsdiskurses zu tilgen sucht und so eine pro-
blematische Vergangenheit unter einer euphemistischen und autoritären Version
4 Max Silverman: Palimpsestic Memory. The Holocaust and Colonialism in French and Francophone
Fiction and Film. New York: Berghahn Books 2013.
79
reich von der über ihr Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien. Diese „fracture
coloniale“ wollen die hier interessierenden Autoren ins Blickfeld rücken, indem
sie zumindest literarisch die Verbindungen wieder herstellen. Ihre Texte befragen
das Erbe der Kolonialzeit auf seine Konsequenzen für die Gegenwart hin und zei-
gen so, dass die französische Geschichte nicht nur über die anderen europäischen
Länder mit der Welt verbunden ist.
Dieses gleichsam zentrifugale Konzept von Geschichte hat Auswirkungen auf
die Konzeption kultureller Erinnerung: Ausgehend von Marianne Hirschs Kon-
zept der „postmemory“ entwickelte Max Silverman für eine solch transkulturelle
und ,verbundene4 Geschichte den Begriff der „palimpsestic memory“4. Er zeigt
auf, dass eine Erinnerung sich vor die andere schieben und sie zumindest zeitwei-
lig überdecken kann. Anhand der Texte zeitgenössischer frankophoner Autoren
lässt sich zeigen, dass die verschiedenen Schichten des Gedächtnisses nicht immer
einfach zugänglich sind, sondern einander überlagern, um schließlich veritable Pa-
limpseste zu bilden.
Die Literatur inszeniert die Struktur der Verdrängung und Entbergung der
Erinnerung auf unterschiedlichen Ebenen: Viele Texte legen eine Architektur der
Gewalt und des Todes unter den modernen und postmodernen Gebäuden der gro-
ßen europäischen Städte frei, die den Protagonisten - und mit ihnen der Leser-
schaft - deutlich macht, wie stark der Drang ist, die Relikte einer uneiwünschten
Vergangenheit zum Verschwinden zu bringen.
In Mathias Enards Kriegsfresko Zone von 2008 konstatiert der Erzähler eine
frenetische Bautätigkeit in den Städten des Mittelmeerraums, die er durchstreift.
Dieser Raum, der für ihn seit Anbeginn der Zeiten von Krieg und Gewalt geprägt
war, trug bislang noch die Narben verschiedener Konflikte in Form der terrains
vagues, der Brachen, deren Leere und Unbestimmtheit häufig von vergangenen
Kriegen zeugte und doch Raum für Imagination und Erinnerung bot. Während
die Brachen als Wunden in der städtischen Landschaft lesbar waren, zeugt ihre
architektonische Füllung im Roman von dem Wunsch ihrer Bewohner, mit den
Traumata der Vergangenheit abzuschließen und an ihrer Stelle Gebäude mit einer
klaren Funktion zu errichten, so dass die Erinnerung, wenn überhaupt, allenfalls
einen peripheren Platz zugewiesen bekommt.
Das Palimpsest als zentrale Figur, an der sich die Komplexität der transkul-
turellen Erinnerung erweist, ist indes nicht allein architektonischer Natur: So
kritisiert etwa der Roman Die französische Kunst des Krieges von Alexis Jenni ein
Geschichtsverständnis, das die Traumata der Vergangenheit durch die Einsetzung
eines offiziellen nationalen Erinnerungsdiskurses zu tilgen sucht und so eine pro-
blematische Vergangenheit unter einer euphemistischen und autoritären Version
4 Max Silverman: Palimpsestic Memory. The Holocaust and Colonialism in French and Francophone
Fiction and Film. New York: Berghahn Books 2013.
79