II. Wissenschaftliche Vorträge
begräbt. Für Jenni wie auch für andere Autorinnen und Autoren ist der zentra-
le Repräsentant eines solchen Verhältnisses zur Geschichte Charles de Gaulle; er
wird weniger als Staatsmann denn als Autor evoziert, der eine Version von Teilen
der französischen Geschichte entwirft, die über Jahrzehnte hinweg in Geltung
blieb. Der Präsident und Autor schreibt Teile der französischen Geschichte neu,
um einen nationalen Roman zu erschaffen, für den er eine Serie von Niederla-
gen - von der drole de guerre über den Indochinakrieg und die Suezkrise bis zum
Algerienkrieg - auf wundersame Weise in Siege verwandelt. Der General „sollte in
diesem Epos mit fünfzig Millionen Gestalten den Platz des allwissenden Erzählers
einnehmen“5. Die Neuerfindung der Geschichte des Landes geht einher mit sei-
nem architektonischen Wiederaufbau. Der Erzähler Jennis behauptet daher, ,,[w]ir
haben zwischen den Seiten von de Gaulles Memoiren gelebt, in einer Papierkulisse,
die er mit seinen Worten schuf“6.
Auf der Ebene der Poetik der Texte wird das Palimpsest durch den zum Teil
umfangreichen Rekurs auf die Intertextualität wirksam. Es ist kein Zufall, dass
eine Reihe der untersuchten Texte auf transkulturelle intertextuelle Referenzen
zurückgreifen oder auf solche, die in Bezug auf ihre kulturelle Aneignung ambiva-
lent sind: Die Texte von Mathias Enard und Alexis Jenni berufen sich etwa auf die
Ilias und die Odyssee, Texte, die oft als fundamental für die europäische Zivilisation
bezeichnet werden, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Provenienz nicht europä-
isch ist.
Das zentrale Problem, dem die Protagonisten, aber auch die Erzähler dieser
Texte sich zu stellen haben, ist das der ,Rahmung4 des traumatischen Geschehens,
mit der die Annäherung an die Ereignisse überhaupt erst möglich wird. Es gilt, den
Zugang zum Geschehen so zu dosieren, die Affekte solcherart zu regulieren und
zu kontrollieren, dass sein traumatisches Potential gebändigt wird. Diese Mecha-
nismen der Affektkontrolle können einerseits die Protagonisten betreffen, sie kön-
nen andererseits aber auch Auswirkungen auf die narrative Gestaltung der Texte
selbst haben, mithilfe derer dann nicht nur die Affekte der Figuren, sondern auch
die der Leser reguliert werden oder dies zumindest versucht wird.
5 Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges. München: Luchterhand 2012, 671.
6 Jenni 2012, 190.
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begräbt. Für Jenni wie auch für andere Autorinnen und Autoren ist der zentra-
le Repräsentant eines solchen Verhältnisses zur Geschichte Charles de Gaulle; er
wird weniger als Staatsmann denn als Autor evoziert, der eine Version von Teilen
der französischen Geschichte entwirft, die über Jahrzehnte hinweg in Geltung
blieb. Der Präsident und Autor schreibt Teile der französischen Geschichte neu,
um einen nationalen Roman zu erschaffen, für den er eine Serie von Niederla-
gen - von der drole de guerre über den Indochinakrieg und die Suezkrise bis zum
Algerienkrieg - auf wundersame Weise in Siege verwandelt. Der General „sollte in
diesem Epos mit fünfzig Millionen Gestalten den Platz des allwissenden Erzählers
einnehmen“5. Die Neuerfindung der Geschichte des Landes geht einher mit sei-
nem architektonischen Wiederaufbau. Der Erzähler Jennis behauptet daher, ,,[w]ir
haben zwischen den Seiten von de Gaulles Memoiren gelebt, in einer Papierkulisse,
die er mit seinen Worten schuf“6.
Auf der Ebene der Poetik der Texte wird das Palimpsest durch den zum Teil
umfangreichen Rekurs auf die Intertextualität wirksam. Es ist kein Zufall, dass
eine Reihe der untersuchten Texte auf transkulturelle intertextuelle Referenzen
zurückgreifen oder auf solche, die in Bezug auf ihre kulturelle Aneignung ambiva-
lent sind: Die Texte von Mathias Enard und Alexis Jenni berufen sich etwa auf die
Ilias und die Odyssee, Texte, die oft als fundamental für die europäische Zivilisation
bezeichnet werden, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Provenienz nicht europä-
isch ist.
Das zentrale Problem, dem die Protagonisten, aber auch die Erzähler dieser
Texte sich zu stellen haben, ist das der ,Rahmung4 des traumatischen Geschehens,
mit der die Annäherung an die Ereignisse überhaupt erst möglich wird. Es gilt, den
Zugang zum Geschehen so zu dosieren, die Affekte solcherart zu regulieren und
zu kontrollieren, dass sein traumatisches Potential gebändigt wird. Diese Mecha-
nismen der Affektkontrolle können einerseits die Protagonisten betreffen, sie kön-
nen andererseits aber auch Auswirkungen auf die narrative Gestaltung der Texte
selbst haben, mithilfe derer dann nicht nur die Affekte der Figuren, sondern auch
die der Leser reguliert werden oder dies zumindest versucht wird.
5 Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges. München: Luchterhand 2012, 671.
6 Jenni 2012, 190.
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