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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2019
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Pawlik, Michael: Karl Marx über Verbrechen und Strafe
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0077
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Michael Pawlik

rige Schädigung fremder Interessen von ihm künftig nicht mehr zu befürchten
sei (Spezialprävention). Der vergeltende Theorietyp komme demgegenüber der
staatlichen Selbststilisierung als Hort von Vernunft und Gerechtigkeit entgegen;
seine subtilste Fassung habe er in den Straftheorien Kants und vor allem Hegels
gefunden. Im Unterschied zu den Präventionslehren respektierten diese zwar die
Selbstzweckhaftigkeit des einzelnen Straftäters. Diese Anerkennung sei jedoch nur
eine abstrakte, d. h. sie erfolge allein in der Einbildung. Als „spekulatives Schön-
pflaster“ des alten ins talionis sanktioniere die Vergeltungstheorie lediglich die Ge-
setze der bestehenden Gesellschaft durch übersinnliche Argumente; ihre Funktion
sei insofern primär eine ideologische. Marx zufolge geht es demgegenüber darum,
statt das Verbrechen am Einzelnen zu strafen, die antisozialen Geburtsstätten des
Verbrechens zu zerstören. Nicht eine Gesellschaft, in der menschengerechter ge-
straft wird, ist sein Ziel, sondern eine Gesellschaft jenseits des Strafrechts. Ver-
wirklicht werde sie im Kommunismus.
Mit der Aufhebung der Arbeitsteilung und der Überwindung des Klassen-
gegensatzes werde in der kommunistischen Gesellschaft nicht nur das Privatei-
gentum, sondern schließlich auch der politische Staat beseitigt und die bisherige
Güterknappheit in Überschuss verwandelt werden. Dadurch würden die Haup-
tursachen von Kriminalität entfallen: die Verelendung der Unterklasse auf der
einen und der den bürgerlichen Wirtschaftssubjekten innewohnende Hang, an-
dere mit allen Mitteln zu Übervorteilen, auf der anderen Seite. In dieser wahr-
haft freiheitlichen Gesellschaft wäre darüber hinaus schon der Rechtszwang als
solcher diskreditiert. Da dem Einzelnen in Gestalt des Zwangs etwas widerfährt,
das er nicht will, ist dies nach Marx nämlich per se ein heteronomer Akt. Dieser
Befund beinhaltet eine radikale Skepsis gegenüber dem herkömmlichen Straf-
verständnis. Rechtfertigen lässt die Strafe sich dann nur noch als Exekution eines
Wunsches des Bestraften selbst. Dies ist in der Tat der Weg, den Marx beschreitet.
Unter kommunistischen Verhältnissen werde die Strafe nichts anderes sein als
das Urteil des Fehlenden über sich selbst. In den diese Strafe vollstreckenden
Menschen werde er daher „die natürlichen Erlöser von der Strafe finden, die er
über sich selbst verhängt hat“. Vom Verurteilten wird danach nicht nur verlangt,
die Strafe zu dulden, sondern auch, für das ihm Angetane noch dankbar zu sein.
Wenn er zu Letzterem nicht bereit ist, beweist er dadurch, dass ihm die Reife
eines Mitglieds der Assoziation wahrhaft freier Menschen fehlt. Konsequent zu
Ende gedacht, stellt dies einen Grund entweder zu seiner weiteren Bestrafung
oder doch jedenfalls zu seiner Umerziehung dar. So schlägt eine Theorie, die
sich die Abschaffung jeder Heteronomie auf die Fahnen geschrieben hat, in der
politischen Praxis unweigerlich in einen totalen Zugriff auf die einzelnen Assozi-
ationsmitglieder um. Nicht nur die Aufklärung hat ihre Dialektik, sondern auch
die Radikalemanzipation.

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