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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Sommer, Andreas Urs: Jochen Schmidt: (14. 12. 1938−18. 5. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0135
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Nachruf auf Jochen Schmidt

blieb für seine gesamte Gelehrtenkarriere bestimmend: So textnah er auch litera-
rische Werke zu interpretieren pflegte, so umfassend war doch zugleich seine Fä-
higkeit, diese Texte in den ganz großen kulturhistorischen Rahmen einzuordnen.
Das zeigte sich schon an seiner Tübinger Dissertation, betreut von dem bekannten
Hölderlin-Spezialisten Friedrich Beißner über Friedrich Hölderlins Elegie Brod
und Wein, mit der er 1965 promoviert wurde, bevor er sich 1973 ebenfalls in Tü-
bingen mit einer Arbeit habilitierte, die Heinrich von Kleists poetische Verfahrens-
weise untersuchte. In Tübingen konnte Schmidt 1978 auch seine erste Professur
antreten, bevor er dann 1988 auf den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturge-
schichte nach Freiburg wechselte. Die dortige Germanistik hat er für Jahrzehnte
wesentlich geprägt, durch seine höchst engagierte, von pädagogischem Impetus
getragene Lehre, aber auch und vor allem durch seine Forschung, die er nach der
Emeritierung im Jahr 2004 noch einmal intensivieren konnte.
Mit der Dissertation war ein Schwerpunkt längst gesetzt: Das Herzblut des
Forschenden galt vor allem Friedrich Hölderlin, ihm widmete Schmidt eine gan-
ze Reihe von Monographien und die Ausgabe der Sämtlichen Werke und Briefe im
Deutschen Klassiker Verlag. Der in weite Kontexte ausgreifende Kommentar stellt
Hölderlin in den Horizont seiner Zeit, schlüsselt minutiös zahllose Bezüge von
der Antike und der Bibel bis in die Gegenwart auf und macht so den fremden
Kontinent Hölderlin auch für heutige Leser zugänglich. Ähnliches kann man über
Schmidts mehrfach aufgelegtes Arbeitsbuch Goethes „Faust“ sagen, das Generatio-
nen von angehenden Goethe-Enthusiasten und -Forschern gleichermaßen geprägt
hat. Um die Pflege von Goethes Erbe bemühte sich Schmidt lange Jahre im Vor-
stand der Goethe-Gesellschaft auch institutionell; 2013 verlieh diese ihm für seine
Forschungen zur Literaturgeschichte der Klassik und der Romantik ihre höchste
Auszeichnung, die Goldene Goethe-Medaille.
Schmidts Neigung, interpretatorisch Farbe zu bekennen und einem deuten-
den Zugriff den Vorzug vor bloßer Materialpräsentation zu geben, ist natürlich
nicht unwidersprochen geblieben - zumal nicht unter jenen, die Philologie als
möglichst eingriffslose und unautoritäre Wiedergabe handschriftlicher Befunde
verstanden wissen wollten. Namentlich in der Hölderlin-Editionsphilologie wur-
den damals heftige Kämpfe ausgefochten, in denen Schmidt an vorderster Front
anzutreffen war. Geradezu legendär wurde auch seine Auseinandersetzung mit Karl
Eibl um die Handschrift von Goethes freirhythmischer Hymne Wandrers Sturmlied,
die Mitte der 1980er Jahre im Jahrbuch der Schillergesellschaft ausgetragen wurde.
Da konnte die Beschäftigung etwa mit einem Romancier des 20. Jahrhunderts,
mit Robert Musil, ein Gegengewicht bieten. Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu
Musils Grundbegriff ist bereits 1975 erschienen.
So ist Jochen Schmidt in seiner wissenschaftlichen Arbeit auf keinen einfa-
chen Nenner zu bringen: Kämpferisch und streitbar war er, wenn es um Positio-
nen und große Deutungslinien ging; feinsinnig und detailbewusst ging er bei der

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