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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Sommer, Andreas Urs: Jochen Schmidt: (14. 12. 1938−18. 5. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0136
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B. Die Mitglieder

Interpretation der von ihm geliebten Dichter zu Werke. Und bei all dem zeigte er
sich wenig geneigt, im hortus conclusus der Literaturwissenschaft zu verharren. Seine
von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft breit vertriebene Geschichte des Genie-
Gedankens von 1985 stand und steht in zahllosen bildungsbürgerlichen Haushal-
ten, aber nicht als Ansporn, es selbst einmal mit dem Genie-Sein zu versuchen,
sondern als ernüchternde Rekonstruktion, die eindrücklich vor Augen führt, wie
der Genie-Gedanke seit Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu seinen politischen Ma-
nifestationen im 20. Jahrhundert eine durchaus fatale Dynamik entwickelt hat.
Dabei greift Schmidts „Gedankengeschichte“ weit über die literarische Äs-
thetik und den deutschen Sprachraum hinaus: Nur wer sich unter einen viel of-
feneren Horizont stellt, ist nach Schmidts gedankengeschichtlicher Hermeneutik
imstande, auch im Einzelnen überzeugende Deutungsarbeit zu leisten. Dass sich
Schmidts enzyklopädisches Temperament auch später nicht mit philologischen
Quisquilien bescheiden wollte, zeigen etwa seine umfangreichen, gemeinsam mit
Barbara Neymeyr und Bernhard Zimmermann 2008 herausgegebenen Studien
zur europäischen Wirkungsgeschichte der Stoa (Stoizismus in der europäischen Philo-
sophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne)
oder eine gemeinsam mit seiner Frau Ute Schmidt-Berger kommentierte Text-
sammlung zum Mythos Dionysos (ebenfalls 2008).
Im selben Jahr 2008 begann auch jenes Vorhaben, das Jochen Schmidt dau-
erhaft mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften verbinden wird, deren
Mitglied er 1997 geworden war. Waren schon alle seine bisherigen wissenschaft-
lichen Unternehmungen von dem beseelt, was Friedrich Nietzsche die „Lei-
denschaft der Erkenntnis“ nannte, so fand er in Nietzsche während der letzten
fünfzehn Jahre seines Schaffens einen herausfordernden Widerpart, der wie er das
dezidierte Urteil suchte. Jochen Schmidt begründete den Historischen und kritischen
Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken der Heidelberger Akademie. Dieses Vor-
haben leitete er nicht nur lange Jahre überaus umsichtig - es war stets eine Freu-
de, mit ihm zusammenzuarbeiten, gerade weil er ein fordernder und fördernder
Forscher war. Er verfasste selbst zwei Kommentare zur „Geburt der Tragödie“ und
zur „Morgenröthe“, die schon jetzt unentbehrliche Instrumente der Nietzsche-
Forschung sind.
Schmidts Verhältnis zum „Gegenstand“ dieser Forschungen war gespannt
und nicht zuletzt von Widerspruchsgeist angetrieben: Denn Nietzsches rabiate In-
fragestellung der Ideale einer vernunftgeleiteten Aufklärung, die Wendung gegen
egalitäre Moralformen, die sich in seinen Texten immer wieder findet, provozier-
ten Schmidts entschiedene Ablehnung, der er auch dezidiert und mitunter pole-
misch Ausdruck verlieh, namentlich dort, wo er politische Barbarismen, ja den
Nazismus vorbereitet wähnte. Schon 1989 hatte er einen Band Aufklärung und Ge-
genaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur
Gegenwart herausgegeben und Nietzsche unter den Verdacht der Gegenaufklärung

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