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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Leopold, Silke: Ludwig Finscher: (14. 3. 1930 − 30. 6. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0143
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Nachruf auf Ludwig Finscher

Gesamtausgabe der Werke Loyset Comperes, als deren Herausgeber Ludwig Fin-
scher firmierte.
Nach der Promotion schien es keineswegs ausgemacht, dass sein Weg in die
Wissenschaft führen würde. Zwar arbeitete Finscher zunächst ein Jahr als Mitar-
beiter von Walter Wiora am Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg, doch danach
kehrte er nach Göttingen zurück und verdiente sich, wie so viele junge Musikwis-
senschaftler seiner Zeit, seinen Lebensunterhalt als Musik- und Theaterkritiken
Aus der Sicht der nachfolgenden Generationen, für die Ludwig Finscher und seine
Göttinger Kommilitonen schlechthin die Schlüsselfiguren des Faches darstellten,
mutet die Vorstellung, wie Carl Dahlhaus als Dramaturg am Deutschen Thea-
ter Göttingen hinter der Bühne Klavier spielte, wie Ludwig Finscher als Kritiker
im Publikum saß und darüber Rezensionen schrieb, fast skurril an. Walter Wiora
gebührt denn auch der Ruhm, beide in die Wissenschaft zurückgeholt zu haben.
Seit 1958 Ordinarius in Kiel, bot er Finscher 1960 die Stelle des Assistenten an.
Als er 1964 an die Universität des Saarlandes nach Saarbrücken wechselte, folgte
Finscher ihm 1965 und habilitierte sich dort 1967 mit einer Arbeit, aus der eine
zweite Säule seiner wissenschaftlichen Arbeit erwuchs - die Musik der Wiener
Klassik. Angeregt durch Wioras Interesse an der musikalischen Gattungsgeschichte
wollte Finscher herausfinden, wie es zu der Herausbildung jenes Streichquartetts
kam, das dann für mehrere Generationen als Gipfel der Kompositionskunst gel-
ten sollte. Die Habilitationsschrift trug den Titel Das klassische Streichquartett und
seine Grundlegung durch Joseph Haydn und endete inhaltlich dort, wo Schriften über
das Streichquartett gemeinhin begannen - bei Haydns op. 33, der vermeintlichen
Gründungsschrift des Wiener Klassischen Stils. Sie wurde 1974 unter dem Titel
Die Entstehung des klassischen Streichquartetts als Band 1 einer Reihe namens Studien
zur Geschichte des Streichquartetts veröffentlicht.
Zu der Fortsetzung dieser geplanten Reihe kam es zunächst freilich nicht.
Finschers weitere Studien über Haydns Streichquartette flössen in das umfang-
reiche und umfassende Buch Joseph Haydn und seine Zeit ein, das der Autor im
Jahre 2000, fünf Jahre nach seiner Emeritierung, vorlegte, und das so etwas wie die
Summe seiner Beschäftigung mit einem Komponisten darstellt, dem er nicht Ge-
ringeres attestierte als die Herausbildung einer „europäisch verbindliche[n] Spra-
che vor allem der Instrumentalmusik.“ Diese Musiksprache bezeichnete Finscher
als eine „Sprache der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und des tiefen,
aber stets kontrollierten Gefühls.“ Formulierungen wie diese, dem Klappentext
des Buches entnommen, sind charakteristisch für Ludwig Finschers Meisterschaft,
komplizierteste Sachverhalte und schier unendliche Detailstudien der musikali-
schen Analyse in einerWeise zusammenzufassen und so auf den Punkt zu bringen,
dass auch Leser, deren musikalische Fertigkeiten es nicht erlaubt hätten, ihm in
den Details zu folgen, Gewinn und Erkenntnis daraus ziehen konnten. Zu den
schönsten Sätzen dieses analytisch überaus detailreichen und selbst für Kenner der

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