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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
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I. Jahresfeier am 21. Mai 2022
DOI Artikel:
Mittler, Barbara: Wilde Geschichte(n) 野史 oder: Von der Macht der Stille(n) – Gedanken zur Politik in China
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0026
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I. Jahresfeier am 21. Mai 2022

Das Stück von Chou Wen-chung nun, mit dem ich anfing, The Willows are
new, ist eine Nachempfindung eben dieser kaum hörbaren Guqin-Musik. Es ist als
stille, wir würden sagen als „absolute“, also Instrumentalmusik geschrieben - fast
so wie die Händel-Suite, die das Programm der Akademiefeier musikalisch rahmt.
Aber, so will ich argumentieren, eben doch ganz anders: Chinesische absolute Mu-
sik zeichnet sich eben gerade nicht dadurch aus, dass sie kein Programm hat - sie
hat eines. Im ersten Satz der Händel-Suite No. 2 in F, der eine Arie nachcmpfin-
det, geht es vor allem darum, dass man diese Arie auf dem Tasteninstrument noch
viel mehr und elaborierter verzieren kann als es mit der menschlichen Stimme je
möglich wäre: Es geht um Klang, nicht um Text und damit eine Botschaft. Wenn
Händel eine Doppel-Fuge schreibt wie die, die am Ende zu klingen kommt, und
die so polyphon dialogisch konstruiert ist, dass Johann Matheson in Der Vollkom-
mene Capeilmeister konstatiert, „Wer sollte wol dencken, daß in diesen wenig Noten,
als einem dicken kurtzen Gold-Drat, ein Faden verborgen wäre, der sich hundert-
mahl so lang ziehen läßt?“2, so geht es wiederum primär immer um das Ausgestal-
ten einer absoluten musikalischen Welt, nicht aber um die ganz anderen Dinge, die
in der instrumentalen Ton-Stille der chinesischen Gw^m-Musik die größte Rolle
spielen. Diese Musik ist ja eben, schon im Mikrokosmos des Instruments selbst,
evident immer im Dialog mit der Welt, zwischen Himmel und Erde: Das, was da
in der Musik und auch in anderen Kunstformen stattfindet, ist, im Zweifel, hohe
Politik, das sind die „Wilden Geschichten“, um die es hier gehen soll.
Chinesische absolute Musik, so kann man vielleicht sagen, ist oft Lied ohne
Worte, aber mit Worten - und ist gerade damit, durch die Überschreibung oder
Verbindung mit einem (stillen) Subtext, meistens Lied des Protests - auch wenn
diese Musik die Sprache der Stille(n) spricht: Es gibt die schöne Anekdote von
zwei Freunden, Bo Ya Ü und Zhong Ziqi M ifU,wo nur der eine ein Stück auf
der Guqin zu spielen brauchte, und der andere wusste sofort, worum es ging. Wenn
der eine vom Wasser spielte, sah der andere sofort, was er meinte, und sagte: „Ach
ja, Wasser.“ Derjenige, der den stillen, wortlosen (Ton-)Klangy/7z ürdes anderen zu
deuten versteht zhifü, der zhiyin ist der beste Freund - und die Musik oder
die Kunst ist damit immer auch eine gefährliche Geheimsprache zwischen eben
solchen Freunden.
Bei dem gerade gehörten Guqin-Stück steht denn auch im Hintergrund der
eben nur scheinbar absoluten, reinen Instrumentalmusik als Programm ein Ge-
dicht von Wang Wei rE (689-759), einem der größten Dichter der Tang. Das
Guqin-Stück, das Chou Wen-chung für das Klavier neu erfunden hat, kann damit

2 Mattheson, Johann Der Vollkommene Capellmeister Das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sa-
chen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nut-
zen vorstehen will, Hamburg: Herold 1739, 476: https://www.digitalc-sammlungen.de/de/view/
bsbl0212373?page=476,477&q=Händel.

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