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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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A. Das akademische Jahr 2022
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Maissen, Thomas: Vergessen: Überlegungen aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0048
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II. Wissenschaftliche Vorträge

Wandel skizziert, der in jüngster Zeit die historischen Vergessensgebote durch Ver-
gessensverbote ersetzte.
Vergessen ist ein „Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens“
(Aleida Assmann) und kann kulturell nur mit großem Aufwand verhindert wer-
den, insbesondere durch die Schrift. Überliefertes Erfahrungswissen geht schnell
verloren, wenn es nicht mehr funktional ist. Von dieser Unvermeidlichkeit des
Vergessens müssen wir historische Gebote des Vergessens unterscheiden. Genau
genommen handelt es sich um Verbote des öffentlichen Erinnerns, wie die römi-
sche Damnatio memoriae. Etwas anderes ist die Amnestie, die von den alten Grie-
chen das Wort für Vergessen (ügvr|OTta) übernahm. Allerdings geht es dabei nicht
darum, eine Straftat zu vergessen, sondern die Strafe selbst zu erlassen.
Der ältere Seneca meinte mehr, als er in Controversiae 10.3.5 schrieb, dass das
Vergessen das beste Mittel gegen den Bürgerkrieg sei; oder vielmehr: gegen die
Fortsetzung des Bürgerkriegs. Wie soll das Wechselspiel von Rache auf Rache en-
den, wenn man nicht bereit ist, das Unrecht zu vergessen, das die andere Seite
einem zugefügt hat? So erklärte die Oblivionsklausel des Westfälischen Friedens
von 1648: „Beiderseits soll ewiges Vergessen und Amnestie all dessen sein, was
... an feindlichen Akten verübt worden ist ... und alles, was man sich gegenseitig
vorhalten könnte, sei in ewiger Vergessenheit begraben“. Nach der Französischen
Revolution stellte Ludwig XVIIL, ein Bruder des hingerichteten Königs, seine
Herrschaft unter das Motto Union et onbli, Einheit und Vergessen. 1923 sagten sich
im Frieden von Lausanne die Türkei und die Alliierten wechselseitig für alle be-
gangenen Verbrechen Amnestie und Vergessen zu.
Vor knapp hundert Jahren konnte also noch im Namen des Friedens verfügt
werden, dass ein Völkermord, derjenige an den Armeniern, vergessen werden soll-
te. Das mag heute ungeheuerlich erscheinen. Doch auch beim deutschen Tätervolk
dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg der Wunsch, die Verbrechen zu verges-
sen. Erst in den 1980er Jahren wurde die Verschiebung hin zur Opferperspektive
der große Motor der Erinnerungskultur. Bundespräsident von Weizsäcker drückte
dies in seiner berühmten Rede am 8. Mai 1985 mit dem chassidischen Motto der
Erinnerungsstätte Yad Vashem aus: „Das Vergessenwollcn verlängert das Exil, und
das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Dieses jüdische Erinnerungsgebot
wurde gleichsam universalisiert und verdrängte das christliche Vergessensgebot:
Zukunftsgerichtete Neugestaltung durch gerechtes Erinnern ersetzte Versöhnung
durch gezieltes Vergessen.
Der historische Rahmen war die Bewältigung von Diktaturen in einer neuen
Weltordnung, die nach 1989/90 als anglophones Kommunikationsnetzwerk ent-
stand. Sein moralischer Imperativ lautete, dass man den einzigartigen Holocaust
nicht vergessen dürfe. Damit einher ging eine neuartige Anerkennung der Opfer
und der Verantwortung ihnen gegenüber, mit vielfältigen und nicht nur finan-
ziellen Implikationen. Paradoxerweise führte diese Anerkennung dazu, dass die

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