Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022
— 2023
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0049
DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI Kapitel:II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:Maissen, Thomas: Vergessen: Überlegungen aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0049
- Schmutztitel
- Titelblatt
- 5-10 Inhaltsverzeichnis
-
11-172
A. Das akademische Jahr 2022
-
11-37
I. Jahresfeier am 21. Mai 2022
- 11-12 Begrüßung durch den Präsidenten Bernd Schneidmüller
- 13-15 Grußwort des Präsidenten der Akademie von Athen Antonios Rengakos
- 16-22 Verantwortung und das Prinzip von Wissenschaft. Bericht des Präsidenten
- 23-24 Kurzbericht des Sprechers des WIN-Kollegs Martin Fungisai Gerchen
- 36-37 Verleihung der Preise
-
38-101
II. Wissenschaftliche Vorträge
-
102-172
III. Veranstaltungen
- 102-106 Academy for Future – Klimakrise: Warum müssen wir jetzt handeln? Öffentliche Veranstaltungsreihe der Arbeitsgruppe „Klimakrise“
- 106-108 Akademievorträge. Gemeinsame Vortragsreihe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit der Württembergischen Landesbibliothek
-
109-121
Mitarbeitervortragsreihe „Wir forschen. Für Sie“
- 126 Internationale Kooperation mit der Estnischen Akademie der Wissenschaften
-
127
Verleihung des Reuchlinpreises 2022 an die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur
- 147-151 Sebestyén, Ágnes; Weber, Andreas: Netzwerktreffen mit Postdoktorandinnen und Postdoktoranden des Eliteprogramms der Baden-Württemberg Stiftung. 14. und 15. November 2022
-
151-170
Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2022 an den Philosophen Volker Gerhardt
-
11-37
I. Jahresfeier am 21. Mai 2022
- 173-241 B. Die Mitglieder
-
243-356
C. Die Forschungsvorhaben
- 243-244 I. Forschungsvorhaben und Arbeitsstellenleitung
-
245-347
II. Tätigkeitsberichte
- 245-249 1. Deutsche Inschriften des Mittelalters
- 249-255 2. Deutsches Rechtswörterbuch
- 255-262 3. Goethe-Wörterbuch (Tübingen)
- 262-265 4. Melanchthon-Briefwechsel
- 265-270 5. Edition literarischer Keilschrifttexte aus Assur
- 270-278 6. Buddhistische Steinschriften in Nordchina
- 278-293 7. The Role of Culture in Early Expansions of Humans (Frankfurt und Tübingen)
- 294-299 8. Nietzsche-Kommentar (Freiburg)
- 300-309 9. Klöster im Hochmittelalter
- 309-312 10. Der Tempel als Kanon der religiösen Literatur Ägyptens (Tübingen)
- 313-316 11. Kommentierung der Fragmente der griechischen Komödie (Freiburg im Breisgau)
- 317-320 12. Karl-Jaspers-Gesamtausgabe (KJG)
- 320-326 13. Historisch-philologischer Kommentar zur Weltchronik des Johannes Malalas
- 326-333 14. Religions- und rechtsgeschichtliche Quellen des vormodernen Nepal
- 333-339 15. Theologenbriefwechsel im Südwesten des Reichs in der Frühen Neuzeit (1550–1620)
- 339-345 16. Hinduistische Tempellegenden in Südindien
- 345-347 17. Wissensnetze in der mittelalterlichen Romania (ALMA)
- 348-354 III. Drittmittelgeförderte Projekte
- 355-356 IV. Kooperationsprojekte
-
357-434
D. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
- 357-372 I. Preise der Akademie
- 373 II. Die Junge Akademie | HAdW
- 374-376 III. Das WIN-Kolleg der Jungen Akademie | HAdW
- 414 IV. Das Akademie-Kolleg der Jungen Akademie | HAdW
-
435-455
E. Anhang
-
435-439
I. Organe, Mitglieder, Institutionen
- 435-436 Vorstand und Geschäftsstelle
- 436 Personalrat / Ombudsperson „Gute wissenschaftliche Praxis“ / Ombudsperson „Partnerschaftliches Miteinander“ / Union der deutschen Akademien der Wissenschaften
- 437 Vertreter der Akademie in Kommissionen der Union / Vertreter der Akademie in anderen wissenschaftlichen Institutionen
- 438 Verein zur Förderung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften e.V.
- 439 Tabula Mortuorum 2022
- 440 II. Gesamthaushalt 2022 der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
- 441-446 III. Publikationen
-
435-439
I. Organe, Mitglieder, Institutionen
- 447-455 Personenregister
Thomas Maissen
Singularität in einer Konkurrenz historischer Opfer zusehends in Frage gestellt
wurde. Ihre Liste ist lang. Sie zu vergessen sei gleichwohl verboten. Es wäre die
Verlängerung des Verbrechens durch Auslöschen der Ermordeten auch aus der Er-
innerung.
Dieses Verbot des Vergessens ist vielleicht besser zu definieren als eingefor-
dertes Recht auf eine Erinnerung; und zwar in dem Sinn, dass das Kollektiv diese
individuellen Schicksale nicht vergessen darf und die Opfer von früher nicht län-
ger mit ihren Erinnerungen alleine gelassen werden sollen. Im Zeitalter der Obli-
vionsklauseln waren die Opfer eines Konflikts dagegen auf dem Altar des Friedens
noch einmal geopfert worden, weil sie ihren Anspruch auf Rache, Gerechtigkeit
oder Entschädigung preisgeben mussten. Das verfügte Vergessen war fatalistisch,
insofern es nicht hoffte, die sündhafte Natur des gefallenen und immer wieder
rückfälligen Menschen zu ändern.
Das hat sich grundlegend verändert. Wir gehen davon aus, dass sich Menschen
grundsätzlich ohne größere Konflikte sozial verhalten können; erst recht, wenn sie
regelmäßig zur Abschreckung an falsches Verhalten erinnert werden und früheres
Unrecht rückwirkend durch Wiedergutmachung kompensiert wird. Das Unrecht
würden sonst stets dieselben Gruppen erleiden, weil - und wenn - es nicht erin-
nert werde. Opfer werden vergessen, Vergessene sind Opfer. Gerechtigkeit, selbst
und gerade wenn sie postum erfolgt, will nicht nur erlittenes Unrecht korrigieren,
sondern soll künftiges Unrecht verhindern, namentlich Ungleichheit.
So ist die Erinnerung an Vergangenes allgegenwärtig in aktuellen Debatten, in
denen die Vergangenheit nicht vergehen und nicht vergessen gehen darf (Henry
Rousso). Im Zeitalter des „Präsentismus“ (Frangois Hartog) wird die Vergangen-
heit enthistorisiert. Ihr wird der Prozess gemacht ohne Rücksicht auf mildernde
Umstände, nämlich die fundamentale Andersartigkeit von damals und heute. An-
gesichts der enormen Dimensionen historischen Unrechts besteht ein weiteres
Problem in beschränkten Ressourcen, wenn ein grundsätzlicher Kampf gegen das
Vergessen versprochen wird, so wenn gewisse Verbrechen durch Unverjährbarkeit
dem Vergessen entzogen werden sollen. Ob das kollektive Versprechen rückwir-
kender Gerechtigkeit einzulösen ist, muss sich noch weisen.
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Singularität in einer Konkurrenz historischer Opfer zusehends in Frage gestellt
wurde. Ihre Liste ist lang. Sie zu vergessen sei gleichwohl verboten. Es wäre die
Verlängerung des Verbrechens durch Auslöschen der Ermordeten auch aus der Er-
innerung.
Dieses Verbot des Vergessens ist vielleicht besser zu definieren als eingefor-
dertes Recht auf eine Erinnerung; und zwar in dem Sinn, dass das Kollektiv diese
individuellen Schicksale nicht vergessen darf und die Opfer von früher nicht län-
ger mit ihren Erinnerungen alleine gelassen werden sollen. Im Zeitalter der Obli-
vionsklauseln waren die Opfer eines Konflikts dagegen auf dem Altar des Friedens
noch einmal geopfert worden, weil sie ihren Anspruch auf Rache, Gerechtigkeit
oder Entschädigung preisgeben mussten. Das verfügte Vergessen war fatalistisch,
insofern es nicht hoffte, die sündhafte Natur des gefallenen und immer wieder
rückfälligen Menschen zu ändern.
Das hat sich grundlegend verändert. Wir gehen davon aus, dass sich Menschen
grundsätzlich ohne größere Konflikte sozial verhalten können; erst recht, wenn sie
regelmäßig zur Abschreckung an falsches Verhalten erinnert werden und früheres
Unrecht rückwirkend durch Wiedergutmachung kompensiert wird. Das Unrecht
würden sonst stets dieselben Gruppen erleiden, weil - und wenn - es nicht erin-
nert werde. Opfer werden vergessen, Vergessene sind Opfer. Gerechtigkeit, selbst
und gerade wenn sie postum erfolgt, will nicht nur erlittenes Unrecht korrigieren,
sondern soll künftiges Unrecht verhindern, namentlich Ungleichheit.
So ist die Erinnerung an Vergangenes allgegenwärtig in aktuellen Debatten, in
denen die Vergangenheit nicht vergehen und nicht vergessen gehen darf (Henry
Rousso). Im Zeitalter des „Präsentismus“ (Frangois Hartog) wird die Vergangen-
heit enthistorisiert. Ihr wird der Prozess gemacht ohne Rücksicht auf mildernde
Umstände, nämlich die fundamentale Andersartigkeit von damals und heute. An-
gesichts der enormen Dimensionen historischen Unrechts besteht ein weiteres
Problem in beschränkten Ressourcen, wenn ein grundsätzlicher Kampf gegen das
Vergessen versprochen wird, so wenn gewisse Verbrechen durch Unverjährbarkeit
dem Vergessen entzogen werden sollen. Ob das kollektive Versprechen rückwir-
kender Gerechtigkeit einzulösen ist, muss sich noch weisen.
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