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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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Festvortrag von Josef Isensee


Josef Isensee

1. Verstehen
Der Prozess setzt ein mit dem Verstehen des Textes. „Verstehen heißt, dasjenige,
was ein anderer ausgesprochen hat, aus sich selber entwickeln", so Goethe.2 Ge-
genstand ist hier nicht der Text an sich, sondern der Text, wie er sich dem Leser
nach Maßgabe seiner Aufnahmefähigkeit und seines Erkenntnisinteresses darstellt,
der Text also als transzendentaler Gegenstand im Sinne Kants. Ein jeder rezipiert
den Text auf seine Weise. Im mittelalterlichen Latein heißt das: „receptum in re-
cipiente per modum recipientis."3 Kantianische Rede bei Thomas von Aquin!
Die Hermeneutik stößt schon in ihrem ersten Schritt auf den Widerstand
erkenntniskritischer Theorien, die im Text weiter nichts als ein Gemenge sinn-
loser Zeichen erkennen wollen und die Möglichkeit eines Verstehens leugnen.
Der sokratische Buchstaben-Agnostizismus kehrt zurück. Doch die praktische
Hermeneutik verliert sich nicht in Selbstzweifeln, und sie hält sich nicht auf in
der Analyse ihrer erkenntnis- und sprachtheoretischen Prämissen. Sie vertraut auf

2 Goethe, Brief vom 25.9.1820 an C.F.A. von Conta, in: ders., Sämtliche Werke, Abteilung II:
Briefe, Tagebücher und Gespräche (hg. von Karl Eibl), Bd. 9, 1999, S. 107ff

3 Thomas, Summa theologiae, p. I, q. LXXV

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