III. Veranstaltungen
ihre praktische Vernunft und folgt einem kognitiven Optimismus. Ihren Gewährs-
mann findet sie in Hans-Georg Gadamer, der lehrt: Was der Lesende verstehe,
sei immer schon mehr als eine fremde Meinung - „es ist immer schon mögliche
Wahrheit".4
2. Auslegen
Wer einen Text versteht und begreift, was der Text „sagen will", versteht und be-
greift ihn nur für sich. Seine Erkenntnis ist luftig und flüchtig. Will er sie verfes-
tigen und anderen weitergeben, so muss er sie in eigene Worte fassen. Das eben
leistet die Interpretation. Sie erneuert das Sinngut in der Begrifflichkeit des Inter-
preten. Interpretation ist „die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Mög-
lichkeiten", so Heidegger.5 Interpretation schafft das alter Ego des Textes. Sie ist
seine Wiedergeburt aus Geist und Sprache des Interpreten. In dieser Form sucht
und findet das Textverständnis des Interpreten Zugang zu Dritten.
Einem privaten Text, etwa dem persönlichen Brief, genügt, dass der vorgese-
hene Empfänger versteht, was gemeint ist. Anders der öffentliche Text, der sich an
eine unbekannte und unbegrenzte Allgemeinheit wendet, wie das staatliche Ge-
setz, die biblische Schrift und das kirchliche Dogma oder das sprachliche Kunst-
werk. Deren Auslegung bleibt nicht in der Subjektivität des Einzelnen stecken.
Vielmehr muss sie sich objektivieren. Soweit sie amtlichen Charakter hat, passt sie
sich der Fasson und dem Duktus der staatlichen oder kirchlichen Institution an,
der sie zugerechnet wird. Soweit es sich um wissenschaftliche Auslegung handelt,
muss diese den wissenschaftlichen Standards der jeweiligen Disziplin genügen,
den sachgebotenen inneren Bedingungen der Ausübung wissenschaftlicher Frei-
heit.6 Das gilt auch für die wissenschaftliche Exegese literarischer Texte, jedoch nicht für
den Genuss, den die schönen Künste ihrem Liebhaber bereiten. Dieser genießt das
Gedicht, wie er es versteht und erlebt. Doch Interpretation ist Sache diskursfähiger
Vernunft, nicht aber Sache seelischer Empfindsamkeit. Letztere tut sich überhaupt
schwer mit der Rede. Schiller bringt das Dilemma auf den Punkt: „Spricht die See-
le, so spricht ach die Seele nicht mehr."7
3. Anwenden
Texte mit dem Anspruch auf überindividuelle Verbindlichkeit, autoritative Texte also,
wie das staatliche Gesetz oder die Heilige Schrift in kirchlicher Verkündigung,
streben nach Umsetzung in die Lebenswelt. Sie wollen so, wie sie amtlich verstan-
4 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 21965, S. 372.
5 Heidegger, Sein und Zeit, 1972, S. 148.
6 Zur Freiheit der Wissenschaft im Vergleich zu den Strukturen von Staat und Gesellschaft Paul
Kirchhof, Wissenschaft in verfaßter Freiheit, 1986, S. 6 f.
7 Schiller, Sprache, in: Votivtafeln 47 (1797).
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ihre praktische Vernunft und folgt einem kognitiven Optimismus. Ihren Gewährs-
mann findet sie in Hans-Georg Gadamer, der lehrt: Was der Lesende verstehe,
sei immer schon mehr als eine fremde Meinung - „es ist immer schon mögliche
Wahrheit".4
2. Auslegen
Wer einen Text versteht und begreift, was der Text „sagen will", versteht und be-
greift ihn nur für sich. Seine Erkenntnis ist luftig und flüchtig. Will er sie verfes-
tigen und anderen weitergeben, so muss er sie in eigene Worte fassen. Das eben
leistet die Interpretation. Sie erneuert das Sinngut in der Begrifflichkeit des Inter-
preten. Interpretation ist „die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Mög-
lichkeiten", so Heidegger.5 Interpretation schafft das alter Ego des Textes. Sie ist
seine Wiedergeburt aus Geist und Sprache des Interpreten. In dieser Form sucht
und findet das Textverständnis des Interpreten Zugang zu Dritten.
Einem privaten Text, etwa dem persönlichen Brief, genügt, dass der vorgese-
hene Empfänger versteht, was gemeint ist. Anders der öffentliche Text, der sich an
eine unbekannte und unbegrenzte Allgemeinheit wendet, wie das staatliche Ge-
setz, die biblische Schrift und das kirchliche Dogma oder das sprachliche Kunst-
werk. Deren Auslegung bleibt nicht in der Subjektivität des Einzelnen stecken.
Vielmehr muss sie sich objektivieren. Soweit sie amtlichen Charakter hat, passt sie
sich der Fasson und dem Duktus der staatlichen oder kirchlichen Institution an,
der sie zugerechnet wird. Soweit es sich um wissenschaftliche Auslegung handelt,
muss diese den wissenschaftlichen Standards der jeweiligen Disziplin genügen,
den sachgebotenen inneren Bedingungen der Ausübung wissenschaftlicher Frei-
heit.6 Das gilt auch für die wissenschaftliche Exegese literarischer Texte, jedoch nicht für
den Genuss, den die schönen Künste ihrem Liebhaber bereiten. Dieser genießt das
Gedicht, wie er es versteht und erlebt. Doch Interpretation ist Sache diskursfähiger
Vernunft, nicht aber Sache seelischer Empfindsamkeit. Letztere tut sich überhaupt
schwer mit der Rede. Schiller bringt das Dilemma auf den Punkt: „Spricht die See-
le, so spricht ach die Seele nicht mehr."7
3. Anwenden
Texte mit dem Anspruch auf überindividuelle Verbindlichkeit, autoritative Texte also,
wie das staatliche Gesetz oder die Heilige Schrift in kirchlicher Verkündigung,
streben nach Umsetzung in die Lebenswelt. Sie wollen so, wie sie amtlich verstan-
4 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 21965, S. 372.
5 Heidegger, Sein und Zeit, 1972, S. 148.
6 Zur Freiheit der Wissenschaft im Vergleich zu den Strukturen von Staat und Gesellschaft Paul
Kirchhof, Wissenschaft in verfaßter Freiheit, 1986, S. 6 f.
7 Schiller, Sprache, in: Votivtafeln 47 (1797).
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