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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Köpf, Ulrich: Annäherung an Gott im Kloster
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0081
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80 | Ulrich Köpf
der Mensch koste, wie süß der Herr ist, ¹¹⁹ und 4. eine höchste Stufe, auf welcher der
Mensch sich selbst allein um Gottes willen liebe und trunken von göttlicher Liebe
sich selbst vergesse und mit Gott ein Geist werde. Eine solche Erfahrung werde
dem Menschen in diesem Leben selten oder nur einmal zuteil, ganz rasch und kaum
einen Augenblick lang. ¹²⁰
Hat Bernhard in seinen verschiedenen Aufstiegsschemata versucht, das gesamte
religiöse Leben in einer Reihe von Stufen zu erfassen, so soll zum Schluss noch
das Schema eines bereits auf hohem Niveau beginnenden Wegs zu Gott vorgestellt
werden. Guigo II., der neunte Prior der Grande Chartreuse, beschreibt in seiner in
den späten siebziger oder frühen achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts entstandenen
Epistola de vita contemplativa oder Scala claustralium das geistliche Leben des
Menschen in den vier Stufen der lectio, meditatio, oratio und contemplatio, ¹²¹ die er
in den folgenden Kapiteln mehrfach definiert. So bezeichnet er etwa die lectio als
sorgfältige, engagierte Durchsicht der Heiligen Schrift, gewissermaßen einer festen
Nahrung, die von der meditatio gleichsam gekaut und zerkleinert und vom Gebet
geschmeckt werde, während die Kontemplation im Genuss der geschmeckten Süße
bestehe. ¹²² In einer späteren Recapitulatio stellt Guigo noch einmal dar, wie die
vier Stufen miteinander zusammenhängen: Der Aufstieg beginne mit der Lesung
als Grundlage; sie biete uns Stoff und führe uns zur Meditation über ihn. Diese untersuche
sorgfältiger, was erstrebt werden solle, und finde und zeige gleichsam den
ergrabenen Schatz, könne ihn allerdings nicht festhalten. Das Gebet, das sich mit
allen Kräften auf Gott richte, erreiche den ersehnten Schatz, während die Kontemplation
die verlangende Seele mit dem Tau der himmlischen Süße reichlich tränke.
Die Lesung als äußere Übung entspreche der Stufe der Anfänger, die Meditation
als innere Einsicht der Stufe der Fortgeschrittenen, das Gebet als ein Sehnen der
Stufe der Frommen und die Kontemplation, die alle Sinne übersteige, der Stufe der
Seligen. ¹²³ Guigo II. schiebt also in das klassische dreistufige Entwicklungsschema
119 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 26, S. 118, Z. 3 –27.
120 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 27, S. 120, Z. 18 –20: Et si quidem e
mortalibus quispiam ad illud raptim interdum, ut dictum est, et ad momentum admittitur, subito
invidet saeculum nequam.
121 Guigues II le Chartreux, Epistola de vita contemplativa (Scala claustralium), in: Lettre sur la vie contemplative
(L’échelle des moines). Douze méditations, hg. von Edmund Colledge/James Walsh (Sources
chrétiennes 163/Série des textes monastiques d’Occident 29), Paris 1980, S. 82–123, hier cap. 2, S. 82– 84.
122 Guigues II le Chartreux, Epistola de vita contemplativa (wie Anm. 121), cap. 3, S. 84/86: Lectio quasi
solidum cibum ori apponit, meditatio masticat et frangit, oratio saporem acquirit, contemplatio est ipsa
dulcedo, quae jocundat et reficit. Lectio in cortice, meditatio in adipe, oratio in desiderii postulatione,
contemplatio in adeptae dulcedinis delectatione.
123 Guigues II le Chartreux, Epistola de vita contemplativa (wie Anm. 121), cap. 12, S. 106/108: Ut ergo
quae diffusius dicta sunt simul juncta melius videantur, praedictorum summam recapitulando colligamus.
Sicut in praemissis praenotatum est exemplis. videre potes quomodo praedicti gradus sibi invicem
cohaereant; et sicut temporaliter, ita et causaliter se praecedant. Lectio enim quasi fundamentum pri-
 
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