Annäherung an Gott im Kloster | 79
sein sittliches Verhalten, ¹⁰⁸ zweitens das, was unter ihm, drittens was neben ihm
und viertens was über ihm ist. ¹⁰⁹ Der Denkfigur von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis
entsprechend beginnt der Weg bei der Selbstbetrachtung, die sich zu eingehenden
Anweisungen über die Amtsführung des Papsts ausweitet. ¹¹⁰ Er endet in
der Betrachtung dessen, was über ihm ist, also des göttlichen Bereichs. Dabei unterscheidet
Bernhard drei Arten der Betrachtung: eine verwaltende (dispensativa), eine
abschätzende (aestimativa) und eine beobachtende (speculativa). In der letzteren
sammelt sich die Betrachtung in sich und macht sich von menschlichen Dingen frei,
um Gott anzuschauen (ad contemplandum Deum). ¹¹¹ Bei der Betrachtung Gottes
und der Engel unterscheidet Bernhard wiederum eine zu seiner Zeit geläufige, ¹¹²
auf Platon ¹¹³ zurückgehende Abfolge von drei abgestuften Weisen rationalen Zugriffs:
Meinung, Glauben und Einsicht, wobei sich die Einsicht auf die Vernunft,
der Glaube auf Autorität, die Meinung aber auf bloße Wahrscheinlichkeit stützt. ¹¹⁴
Eine andersartige, emotionale Weise der Annäherung an Gott beschreibt Bernhard
in seiner Abhandlung De diligendo Deo. ¹¹⁵ Hier entwirft er eine Hierarchie
von vier Stufen der Liebe, eines der vier natürlichen Affekte: ¹¹⁶ 1. die fleischliche
Liebe, mit welcher der Mensch vor allem sich selbst um seiner selbst willen
liebe, ¹¹⁷ 2. die Liebe zu Gott, aber nicht um Gottes, sondern vorerst um seiner selbst
willen, ¹¹⁸ 3. die reine, uneigennützige Liebe zu Gott um Gottes willen, in welcher
108 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. II, cap. 7, S. 670, Z. 5 f.
109 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. II, cap. 6, S. 668, Z. 10 –12.
110 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. II, cap. 8 –lib. III, cap. 23, S. 670 –772.
111 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. V, cap. 4, S. 778, Z. 10 –17.
112 Vgl. z. B. Hugo von St. Victor, De sacramentis Christianae fidei, hg. von Rainer Berndt (Corpus Victorinum.
Textus historici 1), Münster 2008, lib. I, pars 10, S. 226, Z. 14 –16: fides diffinitur. si quis plenam
ac generalem diffinitionem fidei signare uoluerit dicere potest. fidem esse certitudinem quandam animi
de rebus absentibus. supra opinionem et infra scientiam constitutam.
113 Bei Platon ist die Abfolge der Erkenntnisweisen allerdings viergestuft; vgl. Platon, Politeia 511d–e oder
533e–534a, in: Platonis opera, hg. von John Burnet, Bd. 4, Oxford 1957.
114 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. V, cap. 5, S. 780, Z. 16 –22: [Deus] et
qui cum eo sunt beati spiritus, tribus modis, veluti viis totidem, nostra sunt consideratione vestigandi,
opinione, fide, intellectu. Quorum intellectus rationi innititur, fides auctoritati, opinio sola veri similitudine
se tuetur. Habent illa duo certam veritatem, sed fides clausam et involutam, intelligentia
nudam et manifestam; ceterum opinio, certi nihil habens, verum per veri similia quaerit potius quam
apprehendit.
115 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo, in: Ders., Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. von Gerhard
Winkler, 10 Bde., Innsbruck 1990 –1999, Bd. 1, S. 74 –145.
116 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 23, S. 112, Z. 6: Amor est affectio
naturalis una de quatuor. Zu Bernhards Auffassung der Affekte vgl. Ulrich Köpf, Die Leidenschaften
der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux, in: Passiones animae. Die »Leidenschaften der Seele« in der
mittelalterlichen Theologie und Philosophie, hg. von Christian Schäfer/Martin Thurner (Veröffentlichungen
des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie
53), 2. Aufl. Berlin 2013, S. 91–133.
117 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 23, S. 112, Z. 13 f.
118 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 26, S. 116, Z. 16 f.
sein sittliches Verhalten, ¹⁰⁸ zweitens das, was unter ihm, drittens was neben ihm
und viertens was über ihm ist. ¹⁰⁹ Der Denkfigur von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis
entsprechend beginnt der Weg bei der Selbstbetrachtung, die sich zu eingehenden
Anweisungen über die Amtsführung des Papsts ausweitet. ¹¹⁰ Er endet in
der Betrachtung dessen, was über ihm ist, also des göttlichen Bereichs. Dabei unterscheidet
Bernhard drei Arten der Betrachtung: eine verwaltende (dispensativa), eine
abschätzende (aestimativa) und eine beobachtende (speculativa). In der letzteren
sammelt sich die Betrachtung in sich und macht sich von menschlichen Dingen frei,
um Gott anzuschauen (ad contemplandum Deum). ¹¹¹ Bei der Betrachtung Gottes
und der Engel unterscheidet Bernhard wiederum eine zu seiner Zeit geläufige, ¹¹²
auf Platon ¹¹³ zurückgehende Abfolge von drei abgestuften Weisen rationalen Zugriffs:
Meinung, Glauben und Einsicht, wobei sich die Einsicht auf die Vernunft,
der Glaube auf Autorität, die Meinung aber auf bloße Wahrscheinlichkeit stützt. ¹¹⁴
Eine andersartige, emotionale Weise der Annäherung an Gott beschreibt Bernhard
in seiner Abhandlung De diligendo Deo. ¹¹⁵ Hier entwirft er eine Hierarchie
von vier Stufen der Liebe, eines der vier natürlichen Affekte: ¹¹⁶ 1. die fleischliche
Liebe, mit welcher der Mensch vor allem sich selbst um seiner selbst willen
liebe, ¹¹⁷ 2. die Liebe zu Gott, aber nicht um Gottes, sondern vorerst um seiner selbst
willen, ¹¹⁸ 3. die reine, uneigennützige Liebe zu Gott um Gottes willen, in welcher
108 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. II, cap. 7, S. 670, Z. 5 f.
109 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. II, cap. 6, S. 668, Z. 10 –12.
110 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. II, cap. 8 –lib. III, cap. 23, S. 670 –772.
111 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. V, cap. 4, S. 778, Z. 10 –17.
112 Vgl. z. B. Hugo von St. Victor, De sacramentis Christianae fidei, hg. von Rainer Berndt (Corpus Victorinum.
Textus historici 1), Münster 2008, lib. I, pars 10, S. 226, Z. 14 –16: fides diffinitur. si quis plenam
ac generalem diffinitionem fidei signare uoluerit dicere potest. fidem esse certitudinem quandam animi
de rebus absentibus. supra opinionem et infra scientiam constitutam.
113 Bei Platon ist die Abfolge der Erkenntnisweisen allerdings viergestuft; vgl. Platon, Politeia 511d–e oder
533e–534a, in: Platonis opera, hg. von John Burnet, Bd. 4, Oxford 1957.
114 Bernhard von Clairvaux, De consideratione (wie Anm. 61), lib. V, cap. 5, S. 780, Z. 16 –22: [Deus] et
qui cum eo sunt beati spiritus, tribus modis, veluti viis totidem, nostra sunt consideratione vestigandi,
opinione, fide, intellectu. Quorum intellectus rationi innititur, fides auctoritati, opinio sola veri similitudine
se tuetur. Habent illa duo certam veritatem, sed fides clausam et involutam, intelligentia
nudam et manifestam; ceterum opinio, certi nihil habens, verum per veri similia quaerit potius quam
apprehendit.
115 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo, in: Ders., Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. von Gerhard
Winkler, 10 Bde., Innsbruck 1990 –1999, Bd. 1, S. 74 –145.
116 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 23, S. 112, Z. 6: Amor est affectio
naturalis una de quatuor. Zu Bernhards Auffassung der Affekte vgl. Ulrich Köpf, Die Leidenschaften
der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux, in: Passiones animae. Die »Leidenschaften der Seele« in der
mittelalterlichen Theologie und Philosophie, hg. von Christian Schäfer/Martin Thurner (Veröffentlichungen
des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie
53), 2. Aufl. Berlin 2013, S. 91–133.
117 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 23, S. 112, Z. 13 f.
118 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo (wie Anm. 115), cap. 26, S. 116, Z. 16 f.