Deuten, Ordnen und Aneignen
Mechanismen der Innovation in der Erstellung
hochmittelalterlicher Wissenskompendien
Sita Steckel
Innovatives Wissen im Kloster?
Orientierungen auf einem problematischen Forschungsfeld
Wo es um die Geschichte gelehrter Wissenskulturen geht, gelten Klöster, oberflächlich
betrachtet, zunächst als Horte der Tradition. Ihnen wird zwar gern und bereitwillig
die Bewahrung wichtiger antiker Wissensgüter über die Wirren der »dunklen«
Übergangszeit zwischen Antike und Frühmittelalter zugeschrieben. Doch können
wir sie auch als Experimentierfelder für Neuerungen in Wissensdingen verstehen,
und gar im Hochmittelalter?
Die Frage wird in der Fachwissenschaft zwar üblicherweise bejaht. Doch auffallend
häufig werden zu ihrer Beantwortung Beispiele bemüht, die Probleme bergen.
Zum locus classicus ist etwa der Hortus deliciarum geworden, die umfängliche enzyklopädische
Wissenssammlung, die Äbtissin Herrad von Hohenburg († c. 1196)
wohl in den 1170er Jahren in einem illustrierten Prachtcodex für die Kanonissinnen
ihres Stifts zusammenstellte. Wir kennen diesen intellektuellen Lustgarten zwar
heute nur noch aus Rekonstruktionen, da das Original 1870 verbrannte. ¹ Doch wird
er oft und gern zum Schlagwort »Wissen im Kloster« angeführt, und zwar zumeist
in einer Haltung des besonderen Erstaunens.
Das klösterliche Wissensbuch des Hortus deliciarum zielt in seiner geschichtstheologischen
Anordnung – von Gott und Schöpfung über den Menschen und die
Natur zu den letzten Dingen – vor allem auf die weltabgeschiedene Kontemplation
und die Verinnerlichung heilsrelevanten Wissens ab. Es enthält aber gleichzeitig die
neueste Theologie der Zeit – vor allem eine Wissensform, die man gemeinhin Scholastik
nennt und typischerweise mit Innovationen der nordfranzösischen Schulen
assoziiert. Äbtissin Herrad stellte für ihre Kanonissinnen nicht nur Väterautoritäten
zusammen, sondern verarbeitete unter anderem Petrus Lombardus († 1160), also
den Schultheologen schlechthin, sowie die brandaktuelle Historia scholastica des
1 Vgl. Herrad of Hohenbourg, Hortus Deliciarum, hg. von Rosalie Green/Thomas Julian Brown/Kenneth
Levy, 2 Bde. (Studies of the Warburg Institute 36), London 1979, hier Bd. 2: Commentary.
Mechanismen der Innovation in der Erstellung
hochmittelalterlicher Wissenskompendien
Sita Steckel
Innovatives Wissen im Kloster?
Orientierungen auf einem problematischen Forschungsfeld
Wo es um die Geschichte gelehrter Wissenskulturen geht, gelten Klöster, oberflächlich
betrachtet, zunächst als Horte der Tradition. Ihnen wird zwar gern und bereitwillig
die Bewahrung wichtiger antiker Wissensgüter über die Wirren der »dunklen«
Übergangszeit zwischen Antike und Frühmittelalter zugeschrieben. Doch können
wir sie auch als Experimentierfelder für Neuerungen in Wissensdingen verstehen,
und gar im Hochmittelalter?
Die Frage wird in der Fachwissenschaft zwar üblicherweise bejaht. Doch auffallend
häufig werden zu ihrer Beantwortung Beispiele bemüht, die Probleme bergen.
Zum locus classicus ist etwa der Hortus deliciarum geworden, die umfängliche enzyklopädische
Wissenssammlung, die Äbtissin Herrad von Hohenburg († c. 1196)
wohl in den 1170er Jahren in einem illustrierten Prachtcodex für die Kanonissinnen
ihres Stifts zusammenstellte. Wir kennen diesen intellektuellen Lustgarten zwar
heute nur noch aus Rekonstruktionen, da das Original 1870 verbrannte. ¹ Doch wird
er oft und gern zum Schlagwort »Wissen im Kloster« angeführt, und zwar zumeist
in einer Haltung des besonderen Erstaunens.
Das klösterliche Wissensbuch des Hortus deliciarum zielt in seiner geschichtstheologischen
Anordnung – von Gott und Schöpfung über den Menschen und die
Natur zu den letzten Dingen – vor allem auf die weltabgeschiedene Kontemplation
und die Verinnerlichung heilsrelevanten Wissens ab. Es enthält aber gleichzeitig die
neueste Theologie der Zeit – vor allem eine Wissensform, die man gemeinhin Scholastik
nennt und typischerweise mit Innovationen der nordfranzösischen Schulen
assoziiert. Äbtissin Herrad stellte für ihre Kanonissinnen nicht nur Väterautoritäten
zusammen, sondern verarbeitete unter anderem Petrus Lombardus († 1160), also
den Schultheologen schlechthin, sowie die brandaktuelle Historia scholastica des
1 Vgl. Herrad of Hohenbourg, Hortus Deliciarum, hg. von Rosalie Green/Thomas Julian Brown/Kenneth
Levy, 2 Bde. (Studies of the Warburg Institute 36), London 1979, hier Bd. 2: Commentary.