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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Steckel, Sita: Deuten, Ordnen und Aneignen: Mechanismen der Innovation in der Erstellung hochmittelalterlicher Wissenskompendien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0211
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210 | Sita Steckel
Peter Comestor († 1178). Katharina Ulrike Mersch hat erst kürzlich Herrads Verwendung
des in Paris tätigen Hugo von St. Viktor († 1141) als besonders innovativ
hervorgehoben. ²
Der Hinweis hat allerdings eine lange Tradition: Die überraschend »unklösterliche«
Wissensauswahl Herrads wurde seit der Rekonstruktion des zerstörten
Hortus deliciarum durch Green und andere 1979 vielfach aufgegriffen und stets als
besonders innovativ beurteilt. Der Philosophiehistoriker Loris Sturlese bezeichnete
Herrad etwa schon 1993 liebevoll als »Biene im Lustgarten der Scholastik«. Mit
nicht zu verhehlendem Stolz wies 2005 Fiona Griffiths darauf hin, dass Herrad das
neue Sentenzenwerk des Lombardus schon zitierte, bevor es ein halbes Jahrhundert
später zum Standardwerk der entstehenden Universität wurde. ³
Dieses Verständnis von wissenshistorischen Innovationen im Kloster regt daher
auch zum Nachdenken an: Der armen Herrad von Hohenburg wird ja eigentlich
nur eine sekundäre Innovativität zugewiesen. Sie besteht darin, die eigentlichen,
primären Neuerungen der Schulen zu rezipieren. Wo bleibt dabei die klösterliche
Innovativität? Diese Frage liegt nahe, führt aber sehr schnell in eine Sackgasse –
denn mit der Idee einer spezifisch klösterlichen Innovativität ist das für Laien offenbar
faszinierende, für Fachwissenschaftler jedoch höchst unangenehme Begriffspaar
von »Schule und Kloster« auf dem Tisch, von »Scholastik und Monastik«. ⁴
Dieser Gegenüberstellung liegen, wie wir mittlerweile wissen, bestimmte Meister-
oder Meta-Erzählungen des 20. Jahrhunderts zugrunde. ⁵ Sie erzählten entweder
von »Renaissance« und »Humanismus« in den Schulen des Hochmittelalters – oder
andererseits vom Aufblühen klösterlicher Kultur, die wesentlich von Jean Leclercq
als »monastische Theologie« gegen die Tradition der Schulen positioniert wurde. ⁶
2 Vgl. Katharina Ulrike Mersch, Innovationen auf der Grundlage von Traditionen. Kanonikerreform,
Selbst reflexivität und Konventsgeschichte im Miniaturenprogramm des Hohenburger Hortus Deliciarum,
in: Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs, hg.
von Mirko Breitenstein/Stefan Burkhardt/Julia Dücker (Vita regularis. Abhandlungen 48), Berlin
2012, S. 225 –245.
3 Vgl. Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen,
München 1993, hier S. 220 –228; Fiona J. Griffiths, The Garden of Delights: Reform and Renaissance
for Women in the Twelfth Century, Philadelphia 2007, S. 72–75.
4 Vgl. mit einer pointierten Kritik zuletzt Cédric Giraud, Per verba magistri. Anselme de Laon et son école
au XII ᵉ siècle (Bibliothèque d’histoire culturelle du Moyen Âge 8), Turnhout 2010, S. 11–15.
5 Vgl. zum Konzept der Meistererzählungen Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen
und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen, hg. von Frank Rexroth (Beihefte der Historischen
Zeitschrift 46), München 2007; Ders., Das Mittelalter und die Moderne in den Meistererzählungen
der historischen Wissenschaften, in: Erfindung des Mittelalters, hg. von Wolfgang Haubrichs/
Manfred Engel (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151), Stuttgart 2008, S. 12–31; Die
Deutschen und ihr Mittelalter – Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hg.
von Gerd Althoff, Darmstadt 1992, darin bes. Otto Gerhard Oexle, Das Entzweite Mittelalter, S. 7–28.
6 Vgl. zu den entsprechenden Forschungsparadigmen hier nur Charles Homer Haskins, The Renaissance
of the Twelfth Century, Cambridge 1927; Richard William Southern, Scholastic Humanism and the
 
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