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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0336
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332 | III. Die Abtei Saint-Martin in Tournai

Die höchsten weltlichen Ämter der Stadt hatten der bereits erwähnte bischöf-
liche Vogt und der gräfliche Kastellan inne. Während der erste vor allem die Rechts-
sprechung für Bischof und Kapitel übernahm, oblag dem Stellvertreter des Grafen
in erster Linie der militärische Schutz. Dass der Graf von Flandern im 11. Jahrhun-
dert einen Kastellan in Tournai einsetzte, zeigt mehr als deutlich, welch wichtige
strategische, militärische und politische Rolle die Stadt zu dieser Zeit spielte.1318
Innerhalb der Stadt kam ab der Mitte des 11. Jahrhunderts vor allem zwei loka-
len Adelsfamilien eine besondere Bedeutung zu, da sie sich die wichtigsten weltli-
chen und kirchlichen Ämter der Stadt teilten: zum einen die Familie der Osmunde,
die dem Milieu der milites entstammte und ihren Ursprung in Noyon hatte. Mitte
des 10. Jahrhunderts siedelte ein Zweig dieser Familie zusammen mit anderen mi-
lites aus Noyon auf Betreiben Bischof Fulchers nach Tournai über.1319 Zu diesen
Dienstleuten des Bischofs dürfen die bereits genannten homines beatae Marie ge-
zählt werden. Damit sich diese milites in Tournai niederlassen konnten, verlieh ih-
nen Fulcher nicht nur Teile des fiscus und der Regalien, sondern verteilte auch das
Land der ehemaligen Abtei von Saint-Martin. Nach seinem Tod kehrten die milites
nach Noyon zurück und nur die Familie der Osmunde verblieb in Tournai, wo sie
in der Folgezeit vor allem das Kathedralkapitel dominierte.1320
Die zweite Familie war jene der Avesnes. Sie geht auf Guerric ad Barbam zu-
rück, der eine Burg bei Avesnes im Hennegau errichtet hatte.1321 Der große Einfluss,
den diese Familie auf Tournai ausübte, lässt sich letztlich dadurch erklären, dass die
Avesnes im nahe der Stadt gelegenen Leuze alten Allodialbesitz hatten. Mitte des
11. Jahrhunderts stellte diese Familie mit Fastrad den bischöflichen Vogt und mit
Radbod II. den Bischof von Noyon-Tournai. Die Osmunde besetzten dagegen mit
Hermann das Amt des Priors und mit Siger jenes des Kantors des Kapitels, wo-
durch eine Art politisches Gleichgewicht herrschte. Doch 1071 geriet dieses sensible
Gleichgewicht mit dem Herrschaftsantritt Roberts I. des Friesen schwer ins Wan-
ken.1322 Da die Avesnes Arnulf III., den jungen Grafen vom Hennegau, unterstützt
hatten, fielen sie bei Robert I. in Ungnade. Angesichts der Tatsache, dass Fastrad
nun aus den Quellen verschwindet, ist anzunehmen, dass er sein Amt in Tournai
verloren hatte und es letztlich an Balduin Osmund abgeben musste.
1318 Allgemein zur Einrichtung der Kastellaneien v. a. im Grenzgebiet zum Reich vgl. A. Verhulst, Die
gräfliche Burgenverfassung, S. 267-282; zur Kastellanei von Tournai vgl. P. Rolland, Le Tournaisis,
S. 113-147.
1319 Die Osmunde haben ihren Namen von einem Weiler bei Kain in der Nähe von Constantin, wo sie
Besitz hatten. Vgl. dazu E de Cacamp, Recherches sur les de le Vingne, S. 53.
1320 L. Nelson, The Restoration, S. 18-20.
1321 Vgl. dazu L. G. Genicot, La maison d’Avesnes.
1322 Siehe dazu oben S. 75-77.
 
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