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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0337
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1. Die Abtei von Saint-Martin in ihrem sozio-politischen Umfeld | 333

Balduin Osmund gehörte einem Seitenzweig der Osmund-Familie an, der of-
fenbar in Noyon verblieben war und erst jetzt nach Tournai übersiedelte.1323 Dieser
Zweig bestand aus vier Brüdern namens Tetbert, Balduin, Dietrich und Rudolf.
Allen vier gelang in kürzester Zeit ein steiler sozialer Aufstieg: Balduin wurde, wie
bereits erwähnt, bischöflicher Vogt, Tetbert löste seinen Verwandten Hermann im
Amt des Priors ab, Dietrich erhielt das Münzrecht und wurde zu einem der reichs-
ten Männer der Stadt und Rudolf folgte Balduin im Amt des Vogtes nach. Das nun
offen zu Tage tretende Ungleichgewicht zwischen beiden großen Familien suchte
Bischof Radbod II., selbst ein Mitglied der Avesnes, dadurch zu beheben, dass er
seinem Neffen Eberhard half, sich in Tournai niederzulassen. Als dieser die stra-
tegisch wichtige Burg von Mortain einnahm, stieg er in der Gunst des Grafen von
Flandern und wurde schließlich von diesem zum Kastellan von Tournai ernannt.
Als dann auch noch Balduin Osmund sein Amt als bischöflicher Vogt niederlegte,
um Mönch in Le Bec zu werden, und Fastrad II. von Avesnes dieses wichtige Amt
für seine Familie zurückgewinnen konnte, schien das Gleichgewicht wieder herge-
stellt zu sein. Da Fastrad II. jedoch Prior Tetbert ermorden ließ, musste er sein Amt
aufgeben und es an Rudolf Osmund abtreten. Das Amt des ermordeten Tetbert
übernahm dessen Sohn Gunther. Erst mit der Konversion Rudolf Osmunds wurde
das Amt des Vogtes von Tournai wieder für die Avesnes verfügbar.
Das Kathedralkapitel Sainte-Marie war zweifelsohne die wichtigste Institution
der Stadt. Ihre Mitglieder wurden weitgehend aus dem lokalen Umkreis von Tour-
nai rekrutiert. Die meisten Kanoniker, deren Herkunft man mit Sicherheit kennt,
entstammten aus Familien des Adels oder des Ritterstandes.1324
Die ausführlichste Quelle über das Kathedralkapitel und seine Mitglieder ist der
Liber de restauratione Hermanns von Tournai. Obgleich seine Darstellung äußerst
tendenziös ist, liefert sie wichtige Einblicke in den sozio-politischen Bereich. So
war das Leben der Kathedralkanoniker Ende des 11. Jahrhunderts, wie in so vie-
len vergleichbaren Fällen, von schweren Missständen geprägt. Ein Grund hierfür
kann sicherlich im Brand der Kathedrale (1055 und 1063) gesehen werden, der unter
anderem wichtige Teile der Kapitelgebäude zerstört hatte, die die Voraussetzung
für ein gemeinschaftliches Leben waren. Die Kanoniker, die zudem der weniger
strengen regula canonicorum von 816 folgten, lebten daher über die Stadt verstreut
in Privathäusern. Diese Missstände wurden außerdem durch die Abwesenheit des

1323 Dieser Seitenzweig nennt sich in der Folge »de le Vingne« bzw. »de vinea«. Gossuin, der Sohn Dietrichs
des Münzers, heiratete eine Avesnes und übertrug sein Erbe seinem Sohn Eberhard, der den Namen
»de vinea« annahm; vgl. J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 87.
1324 J. Pycke, Le chapitre cathedrale, S. 74 bemerkt, dass allein Odo von Orleans nachweislich aus einer
anderen Gegend stammt. Vgl. zudem Ders., Repertoire biographique.
 
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