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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0353
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2. Die restauratio der Abtei von Saint-Martin (1092-1105) | 349

Eben dies wird auch aus der Urkunde von 1094 ersichtlich, wenn es heißt, dass sich
vor allem die Bewohner Tournais für die Restitution des Klosterbesitzes eingesetzt
hatten. Nach Hermann war die Wiederherstellung der Gemeinschaft allerdings zu-
nächst eine Reaktion auf die Unfähigkeit der Kathedralkanoniker, die während der
großen Seuche ihre seelsorgerlichen Aufgaben nicht erfüllten. Auch wenn hierin
sicher Hermanns Tendenz gegen die Kanoniker offen zu Tage tritt, deutet diese
Passage darauf hin, dass in der Stadt Stimmen laut wurden, die eine correctio der
Kanoniker forderten. Die Gemeinschaft der Religiösen von Saint-Martin wurde
daher als ein Schritt in die richtige Richtung gewertet.1400 Die Forderung der Bür-
ger lag mit Sicherheit in einer gewissen Frömmigkeit begründet. In der asketischen
Gemeinschaft um Odo sahen sie den Gottesdienst und das Gebet für die in Saint-
Martin begrabenen Opfer der Seuche wohl weitaus besser gewährleistet als durch
die Kanoniker von Sainte-Marie. Ein weiterer Grund für die Forderung der Bürger
lag auch darin, dass sie Odo, den großen Gelehrten, der Tournai und seine Kathe-
dralschule weithin bekannt gemacht hatte, nicht an ein anderes Kanonikerstift ver-
lieren wollten.1401 Dasselbe gilt allerdings auch für Odos Gefährten, die zum Teil aus
Tournai stammten und eben in der Nähe ihrer Familien verbleiben sollten.1402 Ein
nicht zu unterschätzendes Argument ist hierbei die spezifische Situation der beiden
konkurrierenden Familien der Stadt. Odo gehörte ebenso wie Bischof Radbod II.
zur Familie der Avesnes. Indem der Bischof ein Mitglied seiner Familie mit der Lei-
tung dieser Gemeinschaft betraute, schuf er auch politisch eine Art Gegenpol zum
Domkapitel, das von der Familie der Osmunde dominiert war.1403 Mit Saint-Martin
entstand somit in der Tat ein Rivale für das Domkapitel, der letztlich die Position
des Bischofs stärkte.
Neben den Bürgern von Tournai und dem Bischof nennt vor allem die Urkun-
de von 1094 den bischöflichen Vogt, Rudolf, als dritten Förderer der restauratio.
Durch die Rückgabe seines beneficium ermöglichte er überhaupt die Existenz des
Klosters. Nach Hermanns Darstellung ging dies mit der Bekehrung seines Vaters
und dem Weggang der Brüder nach Noyon einher. All dies sei im dritten Jahr ge-
1400 In der Folgezeit kommt es zum Streit zwischen den Kanonikern und den Mönchen v. a. bzgl. des Be-
erdigungsrechtes (Hermann, Liber, c. 87, S. 315-316); vor diesem Hintergrund erklärt sich Hermanns
Darstellung; siehe unten S. 358-362.
1401 J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 271-276.
1402 Hermann, Liber, c. 39, S. 79: »[...] protinus evocato domino Everardo Castellano, totius regionis illius
principe, cunctisque maioribus urbis in unum celeriter congregatis, accepto generali consilio ad epi-
scopum festinato miserunt, mandantes ei ut nullam spem ulterius ingrediendi Tornacum haberet, si eis
licentiam daret.«; L. Nelson, The Restoration, S. 142-147 sieht das Motiv hierfür weniger im Verlust
der Person Odos als im Verlust der Mönche. Sie vergleicht Odo mit dem Rattenfänger von Hameln,
denn wie dieser habe Odo die Kinder der Bewohner von Tournai weggeführt.
1403 J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 87-89.
 
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