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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0355
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2. Die restauratio der Abtei von Saint-Martin (1092-1105) | 351

Die junge Gemeinschaft von Saint-Martin orientierte sich zunächst, wie bereits
erwähnt, an der Augustinerregel und wurde von den Kanonikern der Kathedrale
als abhängiges Stift betrachtet.1410 Auch die Übergriffe der Kathedralkanoniker auf
die junge Gemeinschaft, von denen Hermann berichtet, belegen dies. So habe bei-
spielsweise ein gewisser Kleriker namens Siger seinen Sohn Alulf, der sich für das
strenge Leben in Saint-Martin entschieden hatte, Abend für Abend an den Haa-
ren aus der dortigen Gemeinschaft herausgezogen und nach Hause gebracht.1411
Aus dieser Geschichte wird ersichtlich, dass Saint-Martin mit seinem asketischen
Leben vor allem Anlaufstelle für jene Kanoniker der Stadt war, die ein strengeres
Leben führen wollten.1412 Die Tatsache, dass Odo schließlich die Regula Benedicti
annahm und damit das Ende der Übergriffe herbeiführte, hatte daher in erster Linie
pragmatische Gründe.1413 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass der Im-
puls zu diesem Schritt von Abt Aimerich von Anchin ausgegangen sein soll. Er sei
es schließlich auch gewesen, in dessen Hände die Religiösen von Saint-Martin die
Profess abgelegt hatten, und zudem habe er diese Mönche als die seinen betrach-
tet. Diese Bemerkung, die vordergründig auf die enge Freundschaft beider Klöster
verweist, darf aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aimerich ganz andere
Absichten mit Saint-Martin hatte. Durch die in seine Hände abgelegte Profess ge-
hörten die Mönche aus Tournai streng genommen seiner Gemeinschaft an, waren
sie Aimerich doch zu Gehorsam verpflichtet. Nach Wollasch drückt sich darin
eine der engsten Verbindungen aus, die zwei Gemeinschaften miteinander einge-
hen konnten.1414 Genau genommen waren die Mönche von Saint-Martin nun Teil
der Gemeinschaft von Anchin und somit nichts anderes als ein abhängiges Priorat.
Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass Anchin unter Abt Aimerich zwei
abhängige Priorate errichtet hatte, nämlich Aymeries 1088 und Saint-Georges in
Hesdins 1094. Saint-Martin konnte allerdings seinen unabhängigen Status als Ab-
tei behaupten.1415 Dennoch blieben Anchin und Saint-Martin sehr eng miteinander
verbunden, denn die Mönche beider Klöster seien im Rat wie Väter, in der Hilfe
wie Brüder und in den körperlichen Arbeiten wie Diener gewesen. Beide Abteien

1410 Die im Zusammenhang mit dem Konflikt von 1108 geäußerte Behauptung der Domkanoniker, Saint-
Martin sei nichts anderes als eine Kapelle, die dem Kapitel gehöre, und die dortige Gemeinschaft sei
nur geduldet, drücken dies mehr als deutlich aus; siehe auch unten S. 358-362.
1411 Hermann, Liber, c. 38, S. 75-76.
1412 Siehe dazu oben Anm. 1330.
1413 Hermann, Liber, c. 38, S. 76.
1414 J. Wollasch, Neue Methoden, S. 553-555.
1415 Zu beiden Prioraten vgl. J. P., Gerzaguet, L’abbaye d’Anchin, S. 241-252.
 
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