7. Die Vita Gosuini prima | 493
fasser der Vita prima zu Beginn seines Berichts äußerst treffend aus, wenn er be-
merkt: »Was im Innern zerfällt, versetzt das Äußere ins Wanken.«1989
Welche konkreten Missstände die drei Gemeinschaften zu bewältigen hatten,
nennt die Vita prima nicht. Im Falle Saint-Crepins ist zunächst lediglich die Rede
von einem ordo perditus, den es wiederherzustellen (reformare) und zu befolgen
galt. An anderer Stelle wird der Begriff ordo klar vom Begriff religio differenziert.1990
Im Falle Saint-Crepins betont die Vita am Ende ihres Berichts, dass durch Gos-
suin im Kloster wieder puritas, castitas und charitas herrschten.1991 Dies impliziert
freilich, dass eben diese Tugenden zuvor vernachlässigt worden waren. Während
puritas und castitas auf Verfehlungen im sexuellen Bereich verweisen, die für ge-
wöhnlich nur durch die Missachtung der Klausur möglich waren, steht hinter dem
Begriff der charitas ganz allgemein das Gebot der Nächstenliebe, vor allem aber die
Armenfürsorge.1992 Im Falle Saint-Medards liefert der Text weitere Tugenden, die
die Mönche sich zu Herzen nehmen sollten und die letztlich ihre religio ausmach-
ten: So ermahnt Gossuin die Mönche ’zxjtprudentia, iustitia, temperantia, fortitudo
etc. und somit zu Tugenden, die jedem Christen innewohnen sollten.1993
Der Begriff ordo verweist in der Vita prima am ehesten auf die strukturellen
Rahmenbedingungen des monastischen Lebens. Die Abtei von Saint-Crepin mit
ihrem ordo perditus wird den monasteria ordinata gegenübergestellt, womit ganz
allgemein jene Klöster bezeichnet werden, in denen die für das Mönchtum notwen-
digen Rahmenbedingungen noch vorhanden waren.
In allen drei Fällen geht nach der Vita prima die Initiative zur correctio der
Klöster von ihren Äbten aus. Alle drei benötigten allerdings Hilfe von außen, da
der Widerstand in der Gemeinschaft zu groß war. So war Odo von Morigny auf der
1989 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 16, S. 66: »foris enim, iuxta sapientem, titubat, quod dissident
intro.«
1990 Der Begriff religio wird in einem Tugendkatalog in einem Zug mit pietas und humanitas aufgeführt,
vgl. R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 17, S. 74; im Zusammenhang mit der correctio von Saint-Remi
heißt es (ebd., I, c. 21, S. 95): »quia non minus ibi vacillaverat Ordo, nutaverat religio [...].«
1991 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 16, S. 69:»[...] ipsa ornata puritate, paecincta castitate, coronata
charitate restituta est [...].«
1992 Zum Begriff der puritas vgl. A. Diem, Das monastische Experiment, S. 91-92. Die Betonung der
Keuschheit findet sich beispielsweise auch bei Simon von Saint-Bertin (siehe dazu oben S. 198). Zur
strengen Einhaltung der Klausur unter Odo von Tournai siehe dazu oben S. 394-396. Auch R. Gib-
bon, Vita Gosuini prima, I, c. 17, S. 72 spricht davon, dass im Falle von Saint-Medard eine strengere
Klausur (»ad arctiores clausuras«) eingeführt wurde; zur caritas vgl. J. Sonntag, Klosterleben im Spiegel
des Zeichenhaften, S. 327-334.
1993 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 17, S. 73 - 74: »[...] & primum quidem iis, quae procedunt ex
prudentia, quae sunt intellectus circumspectio, providentia, docibilitas, discretio, cautela; secundum
innocentia, beneficentia, amicitia, concordia, pietate, religione, humanitate, quae de fonte iustitiae, de-
rivantur; tertium modestia, verecundia, abstinentia, castitate, honestate, parcitate, sobrietate, pudicitia,
quae de radice temperantiae pullulant; quartum confidentia, magnanimitate, securitate, magnificentia,
Constantia, tolerantia, perseverantia, quarum genitrix & nutrix est fortitudo.«
fasser der Vita prima zu Beginn seines Berichts äußerst treffend aus, wenn er be-
merkt: »Was im Innern zerfällt, versetzt das Äußere ins Wanken.«1989
Welche konkreten Missstände die drei Gemeinschaften zu bewältigen hatten,
nennt die Vita prima nicht. Im Falle Saint-Crepins ist zunächst lediglich die Rede
von einem ordo perditus, den es wiederherzustellen (reformare) und zu befolgen
galt. An anderer Stelle wird der Begriff ordo klar vom Begriff religio differenziert.1990
Im Falle Saint-Crepins betont die Vita am Ende ihres Berichts, dass durch Gos-
suin im Kloster wieder puritas, castitas und charitas herrschten.1991 Dies impliziert
freilich, dass eben diese Tugenden zuvor vernachlässigt worden waren. Während
puritas und castitas auf Verfehlungen im sexuellen Bereich verweisen, die für ge-
wöhnlich nur durch die Missachtung der Klausur möglich waren, steht hinter dem
Begriff der charitas ganz allgemein das Gebot der Nächstenliebe, vor allem aber die
Armenfürsorge.1992 Im Falle Saint-Medards liefert der Text weitere Tugenden, die
die Mönche sich zu Herzen nehmen sollten und die letztlich ihre religio ausmach-
ten: So ermahnt Gossuin die Mönche ’zxjtprudentia, iustitia, temperantia, fortitudo
etc. und somit zu Tugenden, die jedem Christen innewohnen sollten.1993
Der Begriff ordo verweist in der Vita prima am ehesten auf die strukturellen
Rahmenbedingungen des monastischen Lebens. Die Abtei von Saint-Crepin mit
ihrem ordo perditus wird den monasteria ordinata gegenübergestellt, womit ganz
allgemein jene Klöster bezeichnet werden, in denen die für das Mönchtum notwen-
digen Rahmenbedingungen noch vorhanden waren.
In allen drei Fällen geht nach der Vita prima die Initiative zur correctio der
Klöster von ihren Äbten aus. Alle drei benötigten allerdings Hilfe von außen, da
der Widerstand in der Gemeinschaft zu groß war. So war Odo von Morigny auf der
1989 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 16, S. 66: »foris enim, iuxta sapientem, titubat, quod dissident
intro.«
1990 Der Begriff religio wird in einem Tugendkatalog in einem Zug mit pietas und humanitas aufgeführt,
vgl. R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 17, S. 74; im Zusammenhang mit der correctio von Saint-Remi
heißt es (ebd., I, c. 21, S. 95): »quia non minus ibi vacillaverat Ordo, nutaverat religio [...].«
1991 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 16, S. 69:»[...] ipsa ornata puritate, paecincta castitate, coronata
charitate restituta est [...].«
1992 Zum Begriff der puritas vgl. A. Diem, Das monastische Experiment, S. 91-92. Die Betonung der
Keuschheit findet sich beispielsweise auch bei Simon von Saint-Bertin (siehe dazu oben S. 198). Zur
strengen Einhaltung der Klausur unter Odo von Tournai siehe dazu oben S. 394-396. Auch R. Gib-
bon, Vita Gosuini prima, I, c. 17, S. 72 spricht davon, dass im Falle von Saint-Medard eine strengere
Klausur (»ad arctiores clausuras«) eingeführt wurde; zur caritas vgl. J. Sonntag, Klosterleben im Spiegel
des Zeichenhaften, S. 327-334.
1993 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, I, c. 17, S. 73 - 74: »[...] & primum quidem iis, quae procedunt ex
prudentia, quae sunt intellectus circumspectio, providentia, docibilitas, discretio, cautela; secundum
innocentia, beneficentia, amicitia, concordia, pietate, religione, humanitate, quae de fonte iustitiae, de-
rivantur; tertium modestia, verecundia, abstinentia, castitate, honestate, parcitate, sobrietate, pudicitia,
quae de radice temperantiae pullulant; quartum confidentia, magnanimitate, securitate, magnificentia,
Constantia, tolerantia, perseverantia, quarum genitrix & nutrix est fortitudo.«