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5. »Klosterreform« und Filiationsmodell
Dem Phänomen der »Klosterreform« begegnet die Forschung vor allem mit zwei
Erklärungsmodellen: Zum einen wird »Reform« in diachroner Perspektive als eine
ständige Wiederkehr von spiritueller Blüte und Dekadenz gesehen, die die Ge-
schichte des gesamten Mönchtums durchzieht.2122 Zum anderen versteht sie »Refor-
men« noch immer als Teil größerer Bewegungen, die von einem »Reformzentrum«
ausgehend in die Klosterlandschaft ausstrahlten und in einzelne Filiationsstränge
aufgegliedert werden. Dieses Modell, das vor allem durch Hallingers Arbeiten
große Verbreitung fand, ist aber - wie bereits Wollasch bemerkte - anachronis-
tisch und wenig geeignet, um die correctio von Klöstern für die Zeit vor den Orden
adäquat zu beschreiben und zu erklären.2123 Mit ein Grund für die Vorstellung einer
sich filiationsartig verbreitenden »Reform« sind sicherlich die hierfür herangezoge-
nen Quellen.
5.1. Das Problem der Quellen und ihrer Perspektive
Während die deutsche »Reformforschung« der 1970er bis 1990er Jahre die beiden
wichtigsten Quellengattungen, auf denen Hallingers Modell fußte (Consuetu-
dines und Memorialüberlieferung), besser erforschte und erkannte, dass sie nur
sehr bedingt dafür geeignet sind, das Phänomen der »Reform« zu fassen, hat die
vorliegende Arbeit ein besonderes Augenmerk auf die erzählenden Texte gelegt.
Die historiographischen und hagiographischen Texte scheinen auf den ersten Blick
die Vorstellung der Filiation zu befördern: In der Vita Gosuini prima findet sich
beispielsweise eine in der Forschung viel zitierte Passage, die die »Reformbewegung
von Anchin« zu umreißen scheint. Der Verfasser zählt voller Freude auf, welche
Schüler Abt Gossuins in anderen Klöstern das Amt des Abtes bekleideten. Derar-
tige Abtslisten sind jedoch keine Seltenheit; sie dienten in erster Linie zum Lob der
eigenen Institution und im besagten Fall zum Lob der Person Abt Gossuins. An
keiner Stelle behauptet der Verfasser, dass diese Äbte in ihren jeweiligen Gemein-
schaften correctiones angestoßen hatten.
Ein weiteres durchaus problematisches Beispiel sind Simons Gesta abbatum, die
in mehreren Kapiteln thematisieren, wie Mönche aus Saint-Bertin den ordo clunia-
2122 Diese Sichtweise repräsentiert besonders gut E. Klueting, Monasteria semper reformanda.
2123 J. Wollasch, Neue Methoden, S. 535-536.
5. »Klosterreform« und Filiationsmodell
Dem Phänomen der »Klosterreform« begegnet die Forschung vor allem mit zwei
Erklärungsmodellen: Zum einen wird »Reform« in diachroner Perspektive als eine
ständige Wiederkehr von spiritueller Blüte und Dekadenz gesehen, die die Ge-
schichte des gesamten Mönchtums durchzieht.2122 Zum anderen versteht sie »Refor-
men« noch immer als Teil größerer Bewegungen, die von einem »Reformzentrum«
ausgehend in die Klosterlandschaft ausstrahlten und in einzelne Filiationsstränge
aufgegliedert werden. Dieses Modell, das vor allem durch Hallingers Arbeiten
große Verbreitung fand, ist aber - wie bereits Wollasch bemerkte - anachronis-
tisch und wenig geeignet, um die correctio von Klöstern für die Zeit vor den Orden
adäquat zu beschreiben und zu erklären.2123 Mit ein Grund für die Vorstellung einer
sich filiationsartig verbreitenden »Reform« sind sicherlich die hierfür herangezoge-
nen Quellen.
5.1. Das Problem der Quellen und ihrer Perspektive
Während die deutsche »Reformforschung« der 1970er bis 1990er Jahre die beiden
wichtigsten Quellengattungen, auf denen Hallingers Modell fußte (Consuetu-
dines und Memorialüberlieferung), besser erforschte und erkannte, dass sie nur
sehr bedingt dafür geeignet sind, das Phänomen der »Reform« zu fassen, hat die
vorliegende Arbeit ein besonderes Augenmerk auf die erzählenden Texte gelegt.
Die historiographischen und hagiographischen Texte scheinen auf den ersten Blick
die Vorstellung der Filiation zu befördern: In der Vita Gosuini prima findet sich
beispielsweise eine in der Forschung viel zitierte Passage, die die »Reformbewegung
von Anchin« zu umreißen scheint. Der Verfasser zählt voller Freude auf, welche
Schüler Abt Gossuins in anderen Klöstern das Amt des Abtes bekleideten. Derar-
tige Abtslisten sind jedoch keine Seltenheit; sie dienten in erster Linie zum Lob der
eigenen Institution und im besagten Fall zum Lob der Person Abt Gossuins. An
keiner Stelle behauptet der Verfasser, dass diese Äbte in ihren jeweiligen Gemein-
schaften correctiones angestoßen hatten.
Ein weiteres durchaus problematisches Beispiel sind Simons Gesta abbatum, die
in mehreren Kapiteln thematisieren, wie Mönche aus Saint-Bertin den ordo clunia-
2122 Diese Sichtweise repräsentiert besonders gut E. Klueting, Monasteria semper reformanda.
2123 J. Wollasch, Neue Methoden, S. 535-536.