Einleitung
59
Die Geschichte hat gezeigt, dass die wilhelmitischen Erfolge der ersten Jahrhun-
derte rasch verebbten und jene Heterogenität des Ordens im Laufe der Jahrhun-
derte zu dessen Verhängnis geworden war. Begünstigt wurde dieser Niedergang
im Übrigen auch durch fehlende ,public relations', sahen sich die Wilhelmiten
doch nicht im Stande, gegen die wirkmächtigen Historiographen der Zisterzienser
und Augustiner-Eremiten im 16., 17. und 18. Jahrhundert eine tragfähige wilhel-
mitische Eigengeschichte öffentlichkeitswirksam nach außen zu kommunizieren.
Für die Einen blieben die Wilhelmiten Zisterzienser, für die Anderen Augustiner-
Eremiten.134 135
Solche Konkurrenzen wiederum bildeten in der mittelalterlichen und auch spä-
teren vita religiosa keine Seltenheit. An vielen Knotenpunkten der Frömmigkeits-
geschichte bündelten sich religiöse Aufbrüche, aus denen die unterschiedlichsten
Bewegungen entstanden. Einige transformierten, mithin institutionalisierten sich,
einige ersannen neue Regeln, einige bezogen sich auf bewährte; einige dieser Be-
wegungen verschmolzen, einige vergingen.133
Die Wilhelmiten standen als ehemals eremitische Bewegung mit der Wilhelms-
regel als religiösem Basistext, bald jedoch geprägt von der Benediktsregel und in
Teilen bestimmt durch eine mendikantische Lebensführung wie kaum ein anderer
Orden inmitten dieses faszinierenden Geflechts. Um all diese identitätsformenden
Elemente wurde - auf zentraler Ebene wie auf der Ebene der Provinzen - gerun-
gen. Und tatsächlich ist die eigentümliche ,Zwitterstellung' der Wilhelmiten in-
nerhalb jenes Prozesses ständiger Abgrenzung und Anpassung in ihren Statuten
unverkennbar. Während sich dabei die thematische Breite mit den Werken ande-
rer Orden deckt, verwundert angesichts der ausgereiften Vorlagen die auffällige
Strukturlosigkeit des wilhelmitischen Statutencorpus. Höchst bemerkenswert ist
die notwendige Bestätigung der Generalstatuten durch die Provinzkapitel. Auch
damit stellt die vorliegende Edition eine völlig neue, einzigartige Facette inner-
halb der Verfassungslandschaft mittelalterlicher vita religiosa vor. Sie ist ebenso
134 Zur Veranschaulichung dessen eignet sich wohl am Besten eine Episode des frühen 17. Jahrhun-
derts. Als ein Zisterzienser (Chrystostomus Henriquez) und ein Augustiner-Eremit von Brügge
aufgrund einer defekten Reisekutsche im Jahr 1620 im Wilhelmitenkonvent von Aalst unterge-
kommen seien, habe sich der Zisterzienser über die wilhelmitische Lebensweise gewundert, wel-
che nahezu identisch mit seiner eigenen sei. Der Augustiner-Eremit hingegen habe betont, bei
den Wilhelmiten handele es sich um Augustiner. Obwohl der Prior von Aalst sämtliche Schrift-
stücke herausgeholt hätte, welche die Existenz eines Wilhelmitenordens bezeugten, sei ihm von
beiden Gästen kein Glaube geschenkt worden. Kaspar Elm schildert diese Episode eindrücklich
in Elm, Zisterzienser und Wilhelmiten, S. 1-5.
135 Zu derartigen diachronen Strukturen siehe konkret siehe Melville, Anregungen, S. 9-31.
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Die Geschichte hat gezeigt, dass die wilhelmitischen Erfolge der ersten Jahrhun-
derte rasch verebbten und jene Heterogenität des Ordens im Laufe der Jahrhun-
derte zu dessen Verhängnis geworden war. Begünstigt wurde dieser Niedergang
im Übrigen auch durch fehlende ,public relations', sahen sich die Wilhelmiten
doch nicht im Stande, gegen die wirkmächtigen Historiographen der Zisterzienser
und Augustiner-Eremiten im 16., 17. und 18. Jahrhundert eine tragfähige wilhel-
mitische Eigengeschichte öffentlichkeitswirksam nach außen zu kommunizieren.
Für die Einen blieben die Wilhelmiten Zisterzienser, für die Anderen Augustiner-
Eremiten.134 135
Solche Konkurrenzen wiederum bildeten in der mittelalterlichen und auch spä-
teren vita religiosa keine Seltenheit. An vielen Knotenpunkten der Frömmigkeits-
geschichte bündelten sich religiöse Aufbrüche, aus denen die unterschiedlichsten
Bewegungen entstanden. Einige transformierten, mithin institutionalisierten sich,
einige ersannen neue Regeln, einige bezogen sich auf bewährte; einige dieser Be-
wegungen verschmolzen, einige vergingen.133
Die Wilhelmiten standen als ehemals eremitische Bewegung mit der Wilhelms-
regel als religiösem Basistext, bald jedoch geprägt von der Benediktsregel und in
Teilen bestimmt durch eine mendikantische Lebensführung wie kaum ein anderer
Orden inmitten dieses faszinierenden Geflechts. Um all diese identitätsformenden
Elemente wurde - auf zentraler Ebene wie auf der Ebene der Provinzen - gerun-
gen. Und tatsächlich ist die eigentümliche ,Zwitterstellung' der Wilhelmiten in-
nerhalb jenes Prozesses ständiger Abgrenzung und Anpassung in ihren Statuten
unverkennbar. Während sich dabei die thematische Breite mit den Werken ande-
rer Orden deckt, verwundert angesichts der ausgereiften Vorlagen die auffällige
Strukturlosigkeit des wilhelmitischen Statutencorpus. Höchst bemerkenswert ist
die notwendige Bestätigung der Generalstatuten durch die Provinzkapitel. Auch
damit stellt die vorliegende Edition eine völlig neue, einzigartige Facette inner-
halb der Verfassungslandschaft mittelalterlicher vita religiosa vor. Sie ist ebenso
134 Zur Veranschaulichung dessen eignet sich wohl am Besten eine Episode des frühen 17. Jahrhun-
derts. Als ein Zisterzienser (Chrystostomus Henriquez) und ein Augustiner-Eremit von Brügge
aufgrund einer defekten Reisekutsche im Jahr 1620 im Wilhelmitenkonvent von Aalst unterge-
kommen seien, habe sich der Zisterzienser über die wilhelmitische Lebensweise gewundert, wel-
che nahezu identisch mit seiner eigenen sei. Der Augustiner-Eremit hingegen habe betont, bei
den Wilhelmiten handele es sich um Augustiner. Obwohl der Prior von Aalst sämtliche Schrift-
stücke herausgeholt hätte, welche die Existenz eines Wilhelmitenordens bezeugten, sei ihm von
beiden Gästen kein Glaube geschenkt worden. Kaspar Elm schildert diese Episode eindrücklich
in Elm, Zisterzienser und Wilhelmiten, S. 1-5.
135 Zu derartigen diachronen Strukturen siehe konkret siehe Melville, Anregungen, S. 9-31.