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Heeßel, Nils P.; Maul, Stefan M. [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 5): Divinatorische Texte: II. Opferschau-Omina — Wiesbaden: Harrassowitz, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.32174#0016
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Einleitung

3

Wie alle Rituale mußte natürlich auch das Opferschau-
Ritual möglichst korrekt und ohne Störungen durchgeführt wer-
den. Fehler im Ablauf des Rituals konnten die schlimmsten
Folgen zeitigen. Sollte etwa die untersuchte Leber während der
Opferschau auf den Anfragenden fallen, konnte dies seinen Tod
bedeuten. 26 In Opferschau-Protokollen des ersten Jahrtausends
findet sich dann eine stereotype Aufzählung allerlei ungünstiger
Umstände, die bei der Durchführung des Opferschau-Rituals
eintreten konnten, und von denen die Gottheiten bei ihrer
Wahrheitsfindung absehen sollten. Dieser standardisierten
„ezib-Formel“ (von akk. ezib „siehe ab von ...“) konnten bei
Bedarf und auf die spezifische Anfrage eingehend weitere
Ausnahmen hinzugefügt werden. 27 Nach wie vor umstritten ist
die Frage, wie die in den Texten erwähnte Überprüfung (akk.
piqittü) einer Opferschau vonstatten ging. Vor allem die
Opferschau-Protokolle zeigen, daß das Ergebnis einer
Opferschau einmal, manchmal sogar zweimal überprüft werden
konnte, doch ob hierzu eine ganz neue Opferschau durchgeführt
wurde, oder ob nur die Inspektion der bereits untersuchten
Eingeweide von einem anderen Opferschauer wiederholt wurde,
bleibt unklar. 28

Die Auslegung des Opferschau-Befundes

Sobald das Schaf geschächtet, der Kopf abgetrennt und als Opfer
an Samas und Adad dargebracht war, begann die Inspektion der
Eingeweide 29 Zunächst wurde das Schaf aufgeschnitten und die
Gedärme entnommen und zur späteren Inspektion beiseite
gelegt. 30 Dann wurden die Organe betrachtet, wobei der Leber
und mit Abstrichen auch der Lunge die weitaus größte
Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Den übrigen Organen wie
dem Herz, den Nieren, der Milz, der Bauchspeicheldrüse, der
Blase oder auch dem Zwerchfell wurde weit weniger Bedeutung
beigemessen. Die Schafsleber galt wohl deshalb als für die
Omenausdeutung besonders geeignet, weil keine einer anderen
gleicht und eine ihrer zwei Seiten eine stark gegliederte
Oberfläche aufweist. Diese war die für die Opferschau maßgeb-
liche Seite, während die andere Seite, deren Oberfläche fast voll-

26 YOS 10/11 iii 16-17: sum-ma a-na be-el im-me-ri-im im-ta-aq-ta-am i-
ma-at „Wenn (die Leber während der Opferschau) auf den Besitzer des
(für die Eingeweideschau verwendeten) Schafs fällt, wird er sterben.“
Zitiert von Th. Richter, in: B. Böck et al. (Hrsg.), Fs. J. Renger, 401.
Siehe auch K 57, publiziert von J. Nougayrol, RA 61 (1967) 36, Z. 14-
15: [summa t]a-mit UR^.ÜS «ana» AZU ina si-ta-si-sü ÜH.MES-J« /-
sal-l[u UR^].ÜS lum-mu-na-at „Wenn der Beschwörer während der
Anfrage seinen Speichel versprüht, dann ist die Opferschau überaus
ungünstig.“

27 Zur „ezib-Formel“ siehe I. Starr, SAA IV, S. XX-XXVII und die
Ergänzungen bei U. Jeyes, JEOL 32 (1991-92) 28 Anm. 25.

28 Siehe A. Goetze, JCS 11 (1957) 95b: „We know that piqittum is the
technical term for the repetition of the extispicy in order to confirm or
to correct the prior one which is called restTtum“ und U. Jeyes, JEOL 32
(1991-92) 26: „it is not entirely certain whether this meant that one or
two more animals were slaughtered or colleagues of the diviner checked
the entrails of the same animal.“

29 Wohl bereits vor der Schächtung hatte der Opferschauer bestimmte
Zeichen am noch lebenden Tier beachtet, wie die Struktur bestimmter
Knochenteile, Rippen und Wirbel. Diese Beobachtungen waren Teil des
ersten, summa isru genannten Kapitels der bärütu-Sehe. Auch vor und
während der Schlachtung war das Verhalten des Opfertieres
Gegenstand der Ausdeutung, siehe hierzu beispielsweise VAT 9518 (+)
A 468 (Nr. 83) in der Textbearbeitung.

30 Siehe hierzu R. K. G. Temple, JCS 34 (1982) 20, der ausführlich die
Schwierigkeiten der Darmbetrachtung diskutiert. Es ist sehr unwahr-
scheinlich, daß die Gedärme noch direkt im aufgeschnittenen Tierleib
untersucht wurden.

kommen glatt war, praktisch gar nicht berücksichtigt wurde. Der
Opferschauer hielt die Leber so, daß der dorsale, d. h. zum
Rücken weisende Rand ihm zugewandt war und die Gallenblase
somit für ihn am oberen Rand der Leber lag. 31 Zunächst betrach-
tete der Opferschauer eine natürliche Furche auf dem Lobus
sinister, die naplastu „der Blick“ und später manzäzu „die
Präsenz“ (wörtlich: „der Standort“) genannt wurde. Diese
Bezeichnungen zeigen bereits den grundlegenden Charakter die-
ses Lebermerkmals, denn der „Blick“ bzw. die „Präsenz“ ver-
weisen auf die Anwesenheit der Gottheit, ihre Akzeptanz des
Opfers und die Einschreibung der richterlichen Entscheidung
über die Anfrage in die Eingeweide der Opfertieres. 32 War die
Furche nicht vorhanden oder sehr beschädigt, so bedeutete dies
das Ende der Opferschau und machte die Durchführung von
Löseritualen notwendig, um dieses Übel des nicht akzeptierten
Opfers abzuleiten. 33 War die Furche jedoch vorhanden, so setz-
te der Opferschauer die Inspektion der Leber auf dem Lobus
sinister entgegen dem „Uhrzeigersinn“ fort. Hierbei wurden
zahlreiche weitere Furchen, Erhebungen, Markierungen und der-
gleichen mehr betrachtet, von denen hier nur die wichtigsten
genannt werden sollen: Der „Pfad“ (padänu), der „Färbbottich“
(,nasraptu), die „Stärke“ (danänu), das „Palasttor“ (bäb ekalli),
das „Wohlergehen“ (,sulmu), die Gallenblase (martu), der „Pfad
zur Linken der Leber“ (padän sumel marti), der „Thronpodest“
(mdi kussi), der „Finger“ (ubänü), der Auswuchs (sibtu) und das
Joch (mru)? 4

Neben der Untersuchung von Form, Verlauf, Färbung und
dem allgemeinen Erscheinungsbild dieser Leberteile konnten
zahlreiche Markierungen, die zumeist auf krankhafte
Veränderungen der Leber zurückgehen, zu diesen Leberteilen in
Beziehung gesetzt werden. Zu solchen Markierungen gehörten
etwa hervorstehendes Lebergewebe, Löcher oder Blasen; die alt-
orientalischen Opferschauer bezeichneten diese Markierungen
unter anderem als „Keule“ (kakkü), „Fuß“ (sepü), „Samenkorn“
(eristü), Loch (silü), „Kreuz“ (pallurtu) oder Blase (zihhu).

Die Hermeneutik der Opferschau, also die positive oder
negative Bewertung eines bestimmten Befundes, beruht auf
einer positiven oder negativen Wertung der Veränderung, Lage
und Ausrichtung von Leberteilen und Markierungen. Diese
inhärenten Wertungen der möglichen Veränderungen basieren
auf den fundamentalen Vorstellungen der altorientalischen
Kultur und finden sich implizit in allen Bereichen der
Divination; in Opferschau-Texten werden sie manchmal jedoch
explizit formuliert. Solche grundlegenden Bewertungen zeigen
sich vor allem in der Unterscheidung von Rechts und Links in
der Opferschau, aber auch in dem Gegensatz Hell - Dunkel
(naw/märu - taräkü) und anderem mehr. 35 So steht die rechte
Seite für den Anfragenden, die linke verweist hingegen auf sei-
nen Gegner oder Feind, oder wie es ein Opferschau-Text aus-
drückt: „der rechte Zwischenraum (betrifft) mich, der linke den

31 Hierdurch liegt der linke Leberlappen (Lobus sinister) für den altorien-
talischen Opferschauer auf der rechten, der rechte Leberlappen (Lobus
dexter) hingegen auf der linken Seite.

32 R. Leiderer, Anatomie 23f.

33 Siehe St. M. Maul, Zukunftsbewältigung 439-444 zu einem Namburbi-
Ritual speziell gegen das Übel von fehlenden Merkmalen auf der Leber
in der Opferschau (haliqti sTri).

34 Zu den Identifizierungen dieser Teile der Leber siehe die Diskussion in
der Textbearbeitung.

35 Zu den Deutungsregeln in der Opferschau siehe vor allem I. Starr,
HUCA 45 (1974) 17-23, ders., Rituals 18-24 und J.-W. Meyer, Unter-
suchungen 82-180.
 
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