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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0166
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

133

| c. Zusammenfassung 177
Daß die gesamte Menschheit, daß alle alten Kulturen gemeinsam in diesen einen
Strom der Zerstörung oder Erneuerung gezogen werden, ist erst in den letzten Jahr-
zehnten in seiner Bedeutung bewußt geworden. Wir Älteren lebten als Kinder noch
völlig im europäischen Bewußtsein. Indien und China waren fremde, unberührte, ei-
gene Welten, die man nicht in der Geschichte kennenlernte. Wer unzufrieden war,
oder wem es schlecht ging, wanderte aus. Die Welt war offen.
Noch 1918 machten mir folgende Sätze de Groots68 in seinem Buch über China
(Universismus) tiefen Eindruck als etwas ganz Neues: »Das universistische System stellt
den Höhepunkt dar, bis zu welchem sich die geistige Kultur Chinas hat entwickeln
können. Die einzige Macht, die es untergraben und zu Fall bringen könnte, ist gesunde
Wissenschaft. Sollte je die Zeit kommen, daß man sie dort mit Ernst pflegt, dann muß
ohne Zweifel eine vollständige Umwälzung im gesamten geistigen Leben Chinas ein-
treten, durch welche China entweder völlig aus den Fugen geraten muß oder eine Wie-
dergeburt erleben wird, nach welcher China kein China, die Chinesen keine Chine-
sen mehr sein werden. China selbst hat kein zweites System an die Stelle des alten zu
setzen; demnach müßte des alten Zusammenbruch Auflösung und Anarchie zur Folge
haben, kurz die vollste Erfüllung des Satzes der eigenen heiligen Lehre, wonach Kata-
strophe und Untergang unausbleiblich sind, wenn die Menschheit das Tao verliert...
Sollte es in der Ordnung der Welt bestimmt sein, daß das grausame Werk des Abbruchs
seinen Fortgang nehme und die Tage von Chinas alter universistischer Kultur somit
gezählt sind - dann sei wenigstens ihr letzter Tag nicht auch der Tag des Verderbens
eines durch ausländische Einflüsse ins Unglück gestürzten Millionenvolkes.«
Es ist eine merkwürdige Welterscheinung, daß gleichzeitig mit und schon vor dem
Aufkommen des technischen Zeitalters überall auf der Erde ein geistiger und seelischer
Rückgang erfolgt ist, der heute auch ein europäischer geworden ist. Europa blühte zwar
damals auch noch geistig eine kurze Zeit, als China und Indien seit dem 17. Jahrhun-
dert schon ständig bergab gingen. | In dem Augenblick, als diese Völker von der euro- 178
päischen Kriegstechnik vergewaltigt wurden, lagen sie in einem Tiefstand ihrer geisti-
gen Bildung. Europa traf nicht auf ein blühendes, sondern auf ein seiner selbst fast
vergessendes China und Indien.
Erst heute gibt es die reale Einheit der Menschheit, die darin liegt, daß nirgends
etwas Wesentliches geschehen kann, das nicht alle angeht. In dieser Lage ist die tech-
nische Umwälzung, durch Wissenschaft und Erfindungen der Europäer bewirkt, nur
der materielle Grund und Anlaß der geistigen Katastrophe. Von dem Gelingen der be-
gonnenen Umschmelzung aber wird, was 1918 de Groot nur von China sagte: nach
ihr würde China kein China, die Chinesen keine Chinesen mehr sein, vielleicht für
alle Menschen gelten. Auch Europa wird nicht mehr Europa, die Europäer werden
nicht mehr Europäer sein in dem Sinne, wie sie sich zur Zeit de Groots fühlten. Aber
 
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