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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0168
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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| 3. Die Frage nach der Zukunft 180

Geschichtliche Anschauung, die auf das Ganze der menschlichen Dinge geht, würde
die Zukunft mit einschließen. So geschah es im christlichen Bild der Weltgeschichte
zwischen Schöpfung und Endgericht.
Darin liegt eine Wahrheit, die bleibt, auch wenn jenes christliche Bild nicht ge-
glaubt wird. Denn beim Verzicht auf die Zukunft wird das Geschichtsbild des Vergan-
genen endgiltig und vollendet und daher falsch. Es kann kein philosophisches Ge-
schichtsbewußtsein geben ohne Zukunftsbewußtsein.
Aber die Zukunft kann nicht erforscht werden. Erforschbar ist nur, was Realität hat,
was also schon geschehen ist. Doch die Zukunft liegt in Vergangenheit und Gegen-
wart verborgen, wir sehen und erdenken sie in realen Möglichkeiten. In der Tat trägt
uns jederzeit ein Zukunftsbewußtsein.
Dieses Zukunftsbewußtsein sollen wir nicht freilassen in beliebigen Wunsch- oder
Schreckensphantasien, sondern es fundieren, einmal durch Erforschung des Vergan-
genen, dann aber durch reines Auffassen des Gegenwärtigen. Es kommt darauf an, in
den Kämpfen des Tages, durch sie hindurch, die tieferen Kämpfe zu erspüren, in de-
nen das Menschsein selber in Frage steht.
Dann gilt nicht mehr allein die Objektivität einer Historie des bloß Gewesenen, das
dem Kampf des Tages entzogen bleibt, vielmehr wird dann die Gegenwart zum Ur-
sprung und Ziel auch des geschichtlichen Bewußtseins.
Das Gegenwärtige aber wird wie von der Vergangenheit her ebenso entschieden
von der Zukunft her gesehen. Zukunftsgedanken führen die Weise, wie wir in die Ver-
gangenheit und Gegenwart blicken.
Das prognostische Geschichtsdenken aber bestimmt unsere Handlungen. Die durch
Sorge und Hoffnung erschütterte Seele macht hellsichtig. Oder wir verdrängen die auf-
tauchenden Bilder von Möglichkeiten und lassen die Dinge ihren Gang nehmen.
| Einige Beispiele von früheren Prognosen, deren Wahrheitsgehalt heute schon nach- 181
prüfbar ist, in einzelnen Fällen wie eine unheimliche Prophetie wirkt, seien vergegen-
wärtigt. Seit dem 18. Jahrhundert wurde die Zukunft Gegenstand bewußten Nachden-
kens und der empirisch begründeten Vision. Zukunftsprognose ist seitdem und bis
heute ein großes Thema.
Im 18. Jahrhundert, in dem Prozeß der Befreiung von seelenlos gewordenen und
mißbrauchten Autoritäten, bei den beginnenden unerhörten Leistungen von Wissen-
 
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