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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0251
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Geschichte ist in eins Geschehen und Selbstbewußtsein dieses Geschehens, Ge-
schichte und Wissen von Geschichte. Diese Geschichte ist gleichsam umstellt von Ab-
gründen. Fällt sie in diese zurück, so hört sie auf, Geschichte zu sein. Sie ist für unser
Bewußtsein in sich zusammenzuschließen und herauszuheben:
291 | Erstens: Die Geschichte hat Grenzen gegen anderes Reale, gegen die Natur und den
Kosmos. Um die Geschichte liegt der grenzenlose Raum des Seienden überhaupt (§ 1).
Zweitens: Die Geschichte hat innere Strukturen durch Verwandlung der bloßen
Realität des Individuellen und des unaufhaltsam nur Vergehenden. Sie wird erst Ge-
schichte durch die Einheit von Allgemeinem und Individuellem, aber so, daß sie das
schlechthin Individuelle unersetzlicher Bedeutung, ein Einzig-Allgemeines zeigt. Sie
ist Übergangsein als Erfüllung des Seins (§ 2).
Drittens: Die Geschichte wird zur Idee eines Ganzen durch die Frage: worin liegt die
Einheit der Geschichte? (§ 3).
Die Abgründe: der Natur außer der Geschichte und als vulkanischer Grund der Ge-
schichte, - der in ihr erscheinenden Realität in ihrem verschwindenden Übergangsein, -
der endlosen Zerstreutheit, aus der die immer fragliche Einheit sich gewinnen will, -
diese Abgründe bewußt zu sehen, steigert den Sinn für das eigentlich Geschichtliche.

| 1. Grenzen der Geschichte

a. Natur und Geschichte
Wir haben wohl die Vorstellung von der Menschheitsgeschichte als eines winzigen
Teils der Geschichte des Lebens auf der Erde. Dann ist Geschichte der Menschheit eine
sehr kurze Geschichte (äußerstenfalls, aber unwahrscheinlich seit dem Ende des Ter-
tiärs) gegenüber der Pflanzen- und Tiergeschichte, die zeitlich das Bild der Erdge-
schichte völlig beherrscht. Die uns bekannte überlieferte Geschichte von sechstausend
Jahren ist wiederum ein ganz kurzes Geschehen gegenüber der langen ungeschichtli-
chen Menschheitsgeschichte von Jahrhunderttausenden.
Diese Vorstellung ist nicht falsch. Aber in ihr kommt das, was eigentlich Geschichte
ist, noch gar nicht vor. Denn Geschichte ist nicht selber wie Natur, sondern auf Grund
der Natur, die in den unermeßlichen Zeiten vor der Geschichte war und heute ist und
alles trägt, was wir sind.
Wir sprechen zwar von der Geschichte der Natur und von der Geschichte des Men-
schen. Beiden gemeinsam ist ein unumkehrbarer Prozeß in der Zeit. Aber beide sind
in Wesen und Sinn verschieden.
 
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