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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0250
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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lung von Plato bis Hegel oder Nietzsche als Überwindung entgegengestellt wird. Der
Bedeutung des eigenen Denkens wird dann eine wunderliche Steigerung bei dürfti-
gem Gehalt gegeben (in Mimikry einer extremen, aber begründeten Bewußtseinsver-
fassung bei Nietzsche). Die pompöse Gebärde des Nein und das Beschwören des Nichts
ist aber keine eigene Wirklichkeit. Aus der Sensation des Bekämpfens kann man nur
so lange ein geistiges Scheinleben führen, bis das Kapital vergeudet ist.
Was in der Geschichte nur physische Grundlage ist und was nur identisch wiederkehrt,
die regelmäßigen Kausalitäten, das ist das Ungeschichtliche in der Geschichte.
In dem Strom des bloßen Geschehens ist das eigentlich Geschichtliche von einem
einzigartigen Charakter. Es ist Überlieferung durch Autorität und darin eine Kontinui-
tät durch erinnernden Bezug auf das Vergangene. Es ist Erscheinungsverwandlung in
bewußt vollzogenen Sinnzusammenhängen.
| Im geschichtlichen Bewußtsein wird ein unersetzlich Eigenes gegenwärtig, ein In-
dividuelles, das durch keinen allgemeinen Wert zureichend in seiner Geltung für uns
zu begründen ist, eine Wesenheit, die zeitlich verschwindende Gestalt hat.
Das Geschichtliche ist das Scheiternde, aber das Ewige in der Zeit. Es ist die Aus-
zeichnung dieses Seins, Geschichte zu sein und damit nicht Dauer durch alle Zeit.
Denn im Unterschied vom bloß Geschehenden, in dem als dem Stoff die allgemeinen
Formen und Gesetze sich nur wiederholen, ist Geschichte das Geschehen, das in sich,
quer zur Zeit, in Tilgung der Zeit, das Ewige erfaßt.
Warum ist überhaupt Geschichte? Weil der Mensch endlich ist, unvollendet und
unvollendbar, muß er in seiner Verwandlung durch die Zeit des Ewigen innewerden,
und er kann es nur auf diesem Wege. Die Unvollendung des Menschen und seine Ge-
schichtlichkeit sind dasselbe. Die Grenzen des Menschen schließen gewisse Möglich-
keiten aus: Es kann keinen Idealzustand auf Erden geben. Es gibt keine richtige Welt-
einrichtung. Es gibt keinen vollkommenen Menschen. Beständige Endzustände sind
nur möglich als Rückfall in bloßes Naturgeschehen. Aus ständiger Unvollendung in
der Geschichte muß es ständig anders werden. Die Geschichte ist aus sich selbst her-
aus nicht abschließbar. Sie kann nur zu Ende gehen durch inneres Versagen oder kos-
mische Katastrophen.
Die Frage aber, was nun in der Geschichte das eigentlich Geschichtliche in seiner
Erfüllung aus dem Ewigen sei, treibt uns zwar an, seiner ansichtig zu werden, aber es
bleibt doch unmöglich, daß wir über eine geschichtliche Erscheinung im Ganzen und
endgiltig urteilen. Denn wir sind nicht die Gottheit, die richtet, sondern Menschen,
die ihren Sinn öffnen, um Anteil zu gewinnen am Geschichtlichen, das wir daher, je
mehr wir es begreifen, um so betroffener immer noch suchen.

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