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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0072
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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| 3. Vorgeschichte

a. Geschichte und Vorgeschichte
Geschichte reicht so weit zurück wie sprachlich dokumentierte Überlieferung. Es ist,
als ob wir Boden gewinnen, wo ein Wort zu uns dringt. Alle wortlosen Artefakte aus
vorgeschichtlichen Ausgrabungen bleiben in ihrer Stummheit ohne Leben. Erst ein
sprachliches Werk ermöglicht, den Menschen, seine Innerlichkeit, seine Stimmung,
seine Antriebe leibhaftig zu fühlen. Sprachliche dokumentarische Überlieferung reicht
nirgends weiter als bis 3000 v. Chr. zurück. Die Geschichte dauert also etwa 5000
Jahre.
Die Vorgeschichte ist wohl objektiv ein Strom von Veränderungen, aber geistig in-
sofern noch keine Geschichte, als Geschichte nur ist, wo auch ein Wissen von Ge-
schichte, wo Überlieferung, Dokumentation, Bewußtsein der Herkunft und des gegen-
wärtigen Geschehens ist. Es ist ein Vorurteil, daß, wo die Überlieferung fehle, doch die
Sache selbst - die Geschichte - gewesen sein könne, oder gar notwendig gewesen sei.
Geschichte ist die jeweils für den Menschen helle Vergangenheit, der Raum der An-
eignung von Vergangenem, ist Bewußtsein der Herkunft. Vorgeschichte ist die zwar
faktisch begründende, aber nicht gewußte Vergangenheit.
Die Entwicklung des Menschen in der Vorgeschichte ist das Werden des Mensch-
seins in seiner Grundkonstitution, die Entwicklung in der Geschichte ist eine Entfal-
tung von erworbenen Gehalten geistiger und technischer Art. Die Grundkonstitution
erwuchs in unermeßlichen Zeiträumen, die geschichtliche Entwicklung wirkt dage-
gen wie eine vorläufige Erscheinung in Werk, Vorstellung, Gedanke, Gestalt auf dem
breiten und tiefen Grunde des vorgeschichtlich gewordenen, noch gegenwärtig wirk-
lichen Menschseins.
Vorgeschichte und Geschichte haben also nacheinander die zwei Grundlagen un-
seres Menschseins geschaffen. Das vorgeschichtliche Werden, dieses Erwachsen der
Grundartung des Menschen mit seinen elementaren Antrieben und Eigenschaften,
mit all dem Unbewußten bildet den Grundstock unseres Wesens. Die geschichtlich
bewußte Überlieferung und Hinaufbildung des | Menschen, welche uns zeigt, was dem 50
Menschen möglich war, und welche mit ihren Gehalten die Quelle unserer Erziehung,
unseres Glaubens, Wissens und Könnens ist, dieses zweite ist wie eine dünne Haut über
dem Grunde des Vulkans, der der Mensch ist. Es kann möglich scheinen, daß diese
Haut abzuwerfen sei, während der Grundstock der Artung des Menschen aus vorge-
schichtlicher Zeit unabwerfbar ist. Es mag uns etwas drohen, als ob wir wieder Stein-
 
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