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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0261
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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| 3. Die Einheit der Geschichte
Einleitung
Die Geschichtlichkeit des Menschen ist sogleich vielfache Geschichtlichkeit. Aber die
vielfache steht unter der Forderung des Einen. Dieses ist nicht die Ausschließlichkeit
des Anspruchs einer Geschichtlichkeit, die einzige zu sein und über alle anderen zu
herrschen, sondern es muß für das Bewußtsein erwachsen in der Kommunikation des
vielfach Geschichtlichen als die absolute Geschichtlichkeit des Einen.
Es ist die Einheit der Menschheitsgeschichte, auf die alles, was Wert und Sinn hat,
bezogen scheint. Wie ist aber diese Einheit der Menschheitsgeschichte zu denken?
Die Erfahrung scheint zunächst gegen die Einheit zu sprechen. Die historischen
Erscheinungen sind unermeßlich in ihrer Zerstreutheit. Es gibt viele Völker, viele Kul-
turen und in jeder wieder eine Endlosigkeit von eigentümlichen geschichtlichen Tat-
beständen. Überall auf der Erdoberfläche hat der Mensch, wo irgend ein Leben für ihn
möglich war, sich angebaut und zur besonderen Erscheinung gebracht. Es scheint ein
Vielerlei, das nebeneinander und nacheinander wächst und vergeht.
Den Menschen so zu betrachten, heißt ihn wie die Mannigfaltigkeit des Pflanzen-
reichs beschreiben und ordnen. Es ist die Zufälligkeit eines Vielen, das als Gattung
»Mensch« gewisse typische Grundzüge und darin wie alles Lebendige Abweichungen
innerhalb eines Spielraums der Möglichkeiten zeigt. Solche Naturalisierung des Men-
schen aber läßt das eigentliche Menschsein verschwinden.
Denn in aller Zerstreutheit der Erscheinung des Menschen ist das Wesentliche, daß
Menschen sich angehen. Wo sie sich begegnen, haben sie Interesse für einander, ste-
hen sich in Antipathie und Sympathie gegenüber, lernen von einander, tauschen aus.
Es ist in der Begegnung wie ein Sichwiedererkennen des einen im anderen, und darin
ein Sichaufsichselbststellen gegen den anderen, der als er selbst anerkannt wird. In die-
sem Begegnen erfährt der Mensch, daß er, wie immer er in seiner Besonderheit | sein
mag, sich mit allen anderen auf Eines bezieht, das er zwar nicht hat und kennt, das ihn
aber unmerklich führt oder in Augenblicken mit einem alle überkommenden Enthu-
siasmus ergreift.
So gesehen ist die Erscheinung des Menschen in der Zerstreutheit der Geschichte
eine Bewegung zum Einen - ist sie vielleicht die Herkunft aus Einem Grunde - ist in
jedem Falle kein Dasein, das in der Zerstreutheit des Vielfachen sein letztes Wesen
zeigt.
 
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