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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0262
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

229

a. Auf Einheit deutende Tatbestände
1. Einheit der menschlichen Artung
Wir haben etwa folgende triviale Vorstellung vom Menschsein in der Geschichte: Der
Mensch ist ein Ganzes von Anlagen. Jederzeit werden unter den besonderen Bedin-
gungen Teile seiner Kräfte, Begabungen, Antriebe verwirklicht, andere schlummern
unerweckt. Da aber der Mensch in der Potenz immer derselbe ist, bleibt jederzeit auch
alles möglich. Die wechselnde Entfaltung seiner Teile bedeutet keine Wesensverschie-
denheit, sondern Erscheinungsverschiedenheit. Im Zusammennehmen aller Erschei-
nungen als verschieden starker Entwicklung gemeinsamer Möglichkeiten zeigt sich
erst das Ganze des Menschseins.
Auf die Frage, ob die Artung des Menschen in den wenigen Jahrtausenden der Ge-
schichte sich verwandelt habe, oder ob in dieser Zeit der Mensch im Wesen gleichge-
blieben sei, wird geantwortet, daß keine Tatbestände vorliegen, die eine solche Ver-
wandlung beweisen. Alle Veränderungen seien vielmehr zu begreifen durch Auslese
des schon Vorhandenen. Das in der Anlage dauernd und unveränderlich Gegebene
trete vermöge wechselnder Auslese jeweils nach ganz anderen Richtungen in die Er-
scheinung. Jeweils würden diejenigen Menschen sichtbar, erfolgreich und dann zur
Überzahl, die gewissen Bedingungen dieser Gesellschaft und ihrer Situationen durch
ihre Eigenschaften Genüge leisten. Die Zustände seien dadurch charakterisiert, wel-
che Menschenartung sie förderten. Mit dem Wechsel der Zustände verändere sich die
Auslese, und früher verborgene Artungen, | lange zurückgedrängt und durch negative 307
Auslese gering an Zahl geworden, treten nun hervor. Es zeigt sich das wechselnde Of-
fenbarwerden des gleichen Wesens unter immer anderen Bedingungen, mit anderer
Auslese.
Jedoch, so ist diesen Gedankengängen zu erwidern, das Ganze des Menschseins ist
auf keine Weise als Totalität der menschlichen Anlagen vor Augen zu stellen. Es gibt
nicht den Menschen, der alles Menschliche ist oder sein kann, weder in der Wirklich-
keit noch in dem Entwurf einer Vorstellung von ihm.
Weiter ist einzuwenden, daß die Wesensverschiedenheit der natürlich mitgegebe-
nen individuellen Artung elementar ist. Zumal angesichts der schon im frühesten Kin-
desalter sich zeigenden Eigenschaften und Charakterzüge wird die Zwangsläufigkeit
der Anlage sichtbar, der der Mensch nicht entrinnen kann. Durch sie ist er in seiner
Artung abgründig verschieden.
Diese Vorstellungen und Einwände treffen sämtlich etwas Richtiges, aber sie genü-
gen nicht, um den Menschen zu erreichen.
Um die Einheit des Menschseins zu treffen, die in der Geschichte sich zeigt, muß die
biologisch-psychologische Ebene der Betrachtung überschritten werden.
 
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